Der Schrei des Löwen
Chioke und hielt ihm die Schuhe hin. Es waren weiße Adidas. »Wie du siehst, halte ich meine Versprechen! Komm, probier sie gleich mal an!«
Chioke ließ sich auf den Boden plumpsen. Mit strahlendem Gesicht sah er dabei zu, wie Yoba ihm die Schuhe überstreifte.
»Was hast du getan?«, flüsterte Anthony, während Yoba seinem Bruder die Schnürsenkel zuband.
»Was schon? Ich habe einem der Schnösel seine Schuhe abgekauft.«
»Wie viel hast du ihm gegeben?«
»Hundert Dollar.«
»Bist du verrückt!?«, schalt ihn Anthony. »Das ist viel zu viel. Dieses verfluchte Geld wird euch noch umbringen!«
»Besser das Geld als was anderes!«, erklärte Yoba lächelnd. Dann stand er auf und half seinem Bruder auf die Beine. »Und, wie fühlt es sich an?«
Chioke blickte ehrfürchtig auf die blitzsauberen weißen Schuhe an seinen nackten Füßen. Sie mussten fast neu sein.
»Adidas … gut«, gluckste er. »Sehr gut!«
Yoba wuschelte ihm lachend durchs Haar.
»Ich fahre jetzt!«, schrie Osondu, während er hinter das Steuer seines startklaren Tanklasters kletterte.
Der Zuleitungsschlauch lag abgekoppelt im Sand und die beiden Arbeiter hatten ihre Zigaretten ausgedrückt. Nun mühten sie sich wortreich damit ab, den riesigen Schlauch wieder auf die dafür vorgesehene Rolle zu wickeln.
Als Yoba mit seinem Bruder zu dem Tanklaster gehen wollte, hielt ihn Anthony zurück. »Ich flehe dich an: Der Weg durch die große Wüste und über das Meer ist gefährlich. Bleib mit deinem Bruder in Kano! Das ist sicherer! Vielleicht kannst du dort mit dem Geld ein Geschäft aufmachen.«
»Wir werden sehen«, wich Yoba aus. Er war fest entschlossen die Chance zu nutzen und nach Europa zu gehen. Trotzdem wollte er den alten Mann nicht enttäuschen.
Anthony ahnte natürlich, dass seine Ermahnungen ungehört bleiben würden. »Dann nimm wenigstens das hier!«, sagte er mit schwerem Herzen und holte ein Gri-Gri hervor. Der Talisman bestand aus aufgereihten, brüchigen Holzperlen, zwischen denen drei ziemlich zerrupfte Federn befestigt waren. Von welchem Vogel sie stammten, konnte Yoba nicht sagen. Aber er wusste, wie mächtig so ein Fetisch sein konnte. Ob man nun daran glaubte oder nicht.
Anthony legte ihm die Kette um den Hals. »Das Gri-Gri gehörte meiner Frau. Es hat sie immer beschützt«, raunte er und versteckte das Amulett unter Yobas schmuddeligem T-Shirt. »Du darfst es niemals verlieren!«
»Versprochen«, erwiderte Yoba gerührt. »Ich werde es immer bei mir tragen. So lange, bis wir uns wiedersehen.«
Dass ihm der Abschied von dem Greis so schwerfiel, hätte er nie vermutet. Yoba nahm sich fest vor, Anthony ein Geschenk mitzubringen, wenn er aus Europa zu Besuch kam. Das machten viele Auswanderer. Das Geräusch des Anlassers riss ihn aus seinen Gedanken. Es folgte ein Knall, die Spatzen stoben erschrocken auseinander und eine Rußwolke quoll aus dem Auspuff des schrottreifen Tanklasters.
»Seid ihr endlich so weit?«, schrie Osondu aus dem Fahrerfenster. »Zeit ist Geld!«
Er ließ den absterbenden Motor immer wieder aufheulen, was den Tanklaster endgültig in eine stinkende Wolke aus Abgasen hüllte.
»Wir kommen!«, rief Yoba.
Chioke und er umarmten Anthony ein letztes Mal, dann nahm Yoba die Hand seines Bruders und eilte mit ihm zu dem wartenden Laster. Nachdem sie auf den Beifahrersitz geklettert waren, legte Osondu den ersten Gang ein und fuhr mit einem Ruck los. Draußen an der Zufahrt zu dem Tanklager wartete Anthony. Als sie im Schritttempo an ihm vorbeirollten, beugte sich Yoba aus dem kaputten Beifahrerfenster.
»Danke!«, rief er seinem Freund zu. »Das vergesse ich dir nie! Und kümmere dich um Adaeke, solange ich weg bin!«
Der alte Mann hob die Hand und antwortete nicht. Als der qualmende Tanklaster auf die Straße eingebogen war, die aus der Stadt führte, blickte er ihm lange nach. Dann winkte er sich ein Mopedtaxi heran, um zu seinem Parkplatz zurückzukehren. Zum ersten Mal in all den Jahren würde er das Tor nicht pünktlich aufschließen.
12.
Der Tanklaster quälte sich durch den morgendlichen Verkehr. Schon jetzt brannte die Sonne unerbittlich vom wolkenlosen Himmel und in dem zerbeulten Fahrerhaus herrschte bereits eine Temperatur wie in einem Ofen. Osondus Laune wurde immer schlechter. Seit er hinter dem Steuer Platz genommen hatte, schimpfte und fluchte er auf jeden, der es wagte, sich seinem dahinkriechenden Tanklaster auch nur zu nähern. Ob es sich dabei um Mopedfahrer, Fußgänger
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