Der Schreiber von Córdoba
selbst als an ihn.
»Ich möchte meine restlichen Jahre
frei sein.«
Normal
Als ich am nächsten Morgen zur Moschee gehe,
stoppt mich – und alle anderen – plötzlich ein Ausrufer
auf dem Weg. Was kümmert es ihn,
dass es Zeit für unsere Gebete ist?
Ein Maure, ruft der Ausrufer,
wird vom alcalde gesucht – dem Richter der Königin.
Er wollte einen Christen ermorden
und hat Umgang mit einem christlichen Mädchen gepflegt.
Bekannt sind nur sein Alter –
etwa siebzehn Jahre – und seine Anfangsbuchstaben, R.B.
Jeder, der einen Mauren kennt, auf den
diese Beschreibung passt, soll ihn sofort
beim Richter melden.
Ramón Benveniste. Die Scheide seines Messers …
sie fiel zu Boden, erinnere ich mich. Ich habe sie nicht wieder aufgehoben.
Seine Anfangsbuchstaben müssen darauf stehen.
Wie viel von dem, was passiert ist, hat Bea gesehen?
Das spielt keine Rolle, denke ich.
Sie hat nichts dagegen unternommen,
es nicht einmal versucht – ich kann sicher nicht darauf bauen,
dass sie jetzt für mich Zeugnis ablegen würde!
Einen Augenblick lang habe ich gestern Abend
von einem ganz normalen Leben geträumt.
Ein Vater (na ja, ein Schwiegervater). Ein hohes Haus.
Eine Frau.
Hör auf zu träumen, Amir.
Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.
Abschied
Ich schaue mich vergebens
nach einer Feder und Tinte um.
Aber mit welchen Worten
kann ich alles erklären?
Es ist zu früh. Wir sind uns
gerade erst begegnet. Ich würde Hallo
und auf Wiedersehen in einem Atemzug sagen.
Ich suche in meiner Tasche nach etwas,
was ich ihnen geben kann.
Das Messer kann ich nicht hierlassen. Es könnte
sie in Gefahr bringen.
Dann – was ist das?
Ein weißes Viereck aus Leinen – Beas Geschenk.
Ich habe noch nicht hineingeschaut.
Jetzt sehe ich nach.
Drinnen liegt verborgen
ein kleiner weißer Zahn.
Auf einer Seite
ist ein hässliches braunes Loch
in Form eines Herzens.
Das kann ich nicht hierlassen!
Vielleicht werde ich es
in irgendeine Grube fallen lassen, an der ich vorbeikomme,
oder in den Guadalquivir.
Je früher, je besser.
Der Zahn scheint mich durch meine Tasche hindurch zu beißen
und zu sagen: »Pass auf, Amir!«
Die Rückkehr
Es schien mir wahrscheinlich, dass ich
einen neuen Jungen – einen neuen Sklaven –
schlafend in meinem Bett finden würde. Nein, Amir,
sei nicht bitter. Du darfst nie vergessen,
wie freundlich Papa zu dir war.
Mein zweiter Vater, ich weiß.
Aber darum ist es nicht weniger wahr.
Wie kann ich ihn verlassen?
Ich kann nicht , sagt mein Herz.
Aber wie kann ich bleiben? Zwar bin ich frei,
aber Ramón kann das nicht verstehen.
Und das übrige Kastilien auch nicht.
Ich warte lange vor unserer Tür und lausche.
Zuerst höre ich nichts.
Dann schließlich – da.
Dieses verschleimte, feuchte Rasseln würde ich überall wiedererkennen.
Ramón schläft.
Und mein Buch liegt dort, neben meinem Kissen, genau wie vorher.
Sag mir, Hafis, was soll ich tun?
Komm, denn unsere Hoffnungen sind nicht mehr als ein verfallenes Haus.
Bring Wein. Unser Leben hat seine Wurzeln im Wind.
Na ja, Wein ist keiner da
und Geld, um ihn zu kaufen, auch nicht.
Aber ich weiß, ich werde dich mitnehmen.
Scherbenhaufen
Ich denke daran,
Ramón das Messer zurückzulassen.
Aber nach dem, was geschehen ist,
fühlt es sich an wie ein Fluch.
Im Grunde wünsche ich ihm
nichts Böses.
Und noch einmal
spiele ich mit dem Gedanken,
ein paar Zeilen zu hinterlassen. Ich will mir gar nicht ausmalen,
was Mama und Papa alles denken werden.
Dass ich es hier gehasst habe und deshalb weggelaufen bin.
Dass ich sie grausam gefunden habe.
Dass ich ihnen nicht geglaubt habe,
dass sie mich wie einen Sohn lieben.
Es gibt nicht genug Tinte
in ganz Kastilien, um die Heerscharen
von Gedanken auszudrücken,
die in meinem Kopf aufeinanderprallen.
Ich würde gern
mit Ramón Frieden schließen.
Aber es gibt Zeiten,
in denen Frieden nur noch
ein Scherbenhaufen ist.
Ein Wort, das keine Zunge der Welt
mehr aussprechen kann.
Peitsche
Ich gehe Richtung Süden.
Mein einziger Gefährte ist die Sonne.
Um die Mitte des Morgens ist sie mir nicht mehr willkommen.
Ich habe stets ihren Kuss auf meinem Rücken geliebt.
Aber heute ist sie wie Peitschenhiebe, die nicht aufhören wollen.
Ich habe Tagträume von Wasser.
Als die Kalifen hier in al-Andalus regierten,
haben sie die Gaben der Flüsse angezapft, wie Orpheus
dem Schilfrohr ein Lied entlocken
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