Der Schuldige: Roman (German Edition)
Erwachsenengericht fehl am Platz war – auch wenn die Tische umgestellt und die Perücken abgesetzt und nur zehn Reporter auf der Galerie waren.
Gordon Jones setzte sich schließlich, und Sebastian beugte sich zu Daniel hinüber: »Er hat alles falsch verstanden. Sollte ich es ihnen vielleicht erzählen?« Seine klare, redegewandte Stimme war auch geflüstert laut genug.
»Nicht jetzt«, sagte Daniel, der hörte, dass Irene sich räusperte und in seine Richtung blickte. »Wir kommen schon noch an die Reihe.«
Es war der zweite Tag des Prozesses, und Daniel kam um halb zehn im Gericht an. Er trabte an den Reihen der Pressefoto grafen vorbei, die in Dreierreihen hinter den provisorischen Barrieren standen. Als er in den Zentralen Strafgerichtshof eintrat, erschien er ihm dunkel und feucht. Der Eintritt in dieses Gerichtsgebäude kam ihm jedes Mal bedeutungsschwer vor. Es war, als würde man verschluckt: als gelange man in den Brustkorb einer Bestie, als erhöben Marmorstatuen Vorwürfe gegen ihn.
Wieder war Daniel ängstlich zumute, als wäre er ein jüngerer, weniger erfahrener Anwalt. Er hatte mit zahllosen Strafprozessen zu tun gehabt, aber heute waren seine Hände feucht, als ginge es um einen Prozess gegen ihn.
Bevor Sebastian im Gerichtssaal erschien, holte Daniel tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Er wusste, was der Tag bereithielt und dass es für den Jungen nur schwer werden konnte.
»Die Staatsanwaltschaft ruft Mrs. Madeline Stokes auf.«
Ben Stokes’ Mutter kam herein und ging zum Zeugenstand. Sie lief, als wäre sie gefesselt. Sie hatte ihr Haar nach hinten gebunden, aber schief, als hätte sie es in Eile getan. Die Frisur unterstrich die Höhlen ihrer Wangen und ihrer dunklen Augen. Daniel saß mindestens sechs Meter von ihr entfernt, und doch war er sicher, dass er sie zittern sah. Sie lehnte sich auf den Zeugenstand, als sie dort ankam, und ihre Atemzüge waren im Mikrofon deutlich zu hören.
Durch die Heizung war der Saal trocken und heiß. Daniels Achselhöhlen waren schweißnass.
Sekunden vergingen, in denen Gordon Jones in seinen Notizen blätterte. Alle im Gerichtssaal warteten darauf, dass er zu sprechen begann.
»Mrs. Stokes«, sagte er nach einer langen Pause, »ich weiß, es ist schwer für Sie, aber ich möchte Sie bitten, Ihre Gedanken zu dem Nachmittag am Sonntag, dem 8. August, zurückschweifen zu lassen. Können Sie dem Gericht sagen, wann Sie Ihren Sohn zum letzten Mal lebend gesehen haben?«
»Ja … es war ein schöner Tag. Er fragte, ob er draußen ein bisschen mit seinem Fahrrad herumfahren darf, und ich sagte Ja, aber dass er … dass er in unserer Straße bleiben soll.«
Sie war offensichtlich nervös, seelisch gebrochen durch große Traurigkeit, aber ihre Stimme war klar und vornehm. Sie erinnerte Daniel an Eis in einem Glas. Wenn sie gefühlvoll wurde, wurde ihre Stimme tiefer.
»Haben Sie Ihren Sohn beobachtet, als er draußen spielte?«
»Ja, eine Weile. Ich machte den Abwasch in der Küche und sah ihn auf dem Bürgersteig hin und her fahren.«
»Was meinen Sie, um wie viel Uhr Sie ihn das letzte Mal gesehen haben ?« Jones sprach freundlich, respektvoll.
»Es war ungefähr um eins. Er war nach dem Mittagessen nun schon etwa eine halbe Stunde draußen, und ich fragte ihn, ob er eine Jacke anziehen oder reinkommen wollte. Ich dachte, es könnte regnen. Er sagte, es wäre alles in Ordnung. Jetzt wünschte ich, ich hätte ihn reinkommen lassen. Ich wünschte, ich hätte darauf bestanden . Ich wünschte …«
»Sie erlaubten Ben also, weiter draußen zu spielen? Zu welcher Zeit haben Sie entdeckt, dass er nicht mehr in der Straße spielte?«
»Nicht lange danach. Es waren vielleicht fünfzehn, zwanzig Minuten – das war alles. Ich hatte oben zu tun und guckte aus dem Fenster. Ich sah immer wieder nach ihm. Ich … Man kann so ziemlich unsere ganze Straße von da oben überblicken, aber als ich hinaussah … konnte ich ihn einfach überhaupt nicht sehen.«
Als Madeline Stokes »überhaupt nicht« sagte, wurden ihre Augen sehr groß.
»Was haben Sie da getan?«
»Ich lief hinaus auf die Straße. Ich lief nach rechts und nach links, und dann fand ich sein Fahrrad. Es lag verlassen hinter der nächsten Ecke auf der Seite. Ich wusste sofort, dass ihm etwas Schreckliches passiert sein musste. Ich weiß nicht, warum, aber ich fühlte es. Zuerst dachte ich, er wäre vielleicht von einem Auto angefahren worden, aber alles war vollkommen still gewesen. Er war
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