Der Schuldige: Roman (German Edition)
die zwei fehlenden Zähne sehen konnte, und dabei vor Frohsinn ihre Augen so fest zukniff, dass die Lachfältchen in ihre Knochen schnitten. Ein anderes zeigte seine Mutter beim Hühnerfüttern, während Minnie vom Fenster her winkte. Vor seinem inneren Auge waren die Hände seiner Mutter immer knochig und langsam: Sie ließ das Futter in Zeitlupe fallen, als säßen ihre Gelenke fest. Auf einem anderen Foto spielten sie zusammen Karten, und seine Mutter gewann; sie wippte auf dem Sofa nach hinten, die Knie in der Luft, und kreischte ungläubig.
Daniel legte die Halskette in die Schublade zurück. Er überlegte, was Minnie wohl von seiner Mutter denken würde, wenn sie sich leibhaftig träfen. Seine Mutter wäre so zerbrechlich: ein Spätzchen vor ihr, der tapsenden Bärin. Minnie würde sie nähren und lieben und ihr zu arbeiten geben, wie sie es mit Daniel getan hatte. Vor Minnie wäre Daniels Mutter einfach ein anderes Kind. Wenn er darüber nachdachte, dann war es das, was ihm das Herz brach. Seine Mutter war für ihn ein Kind, und jedes Jahr fühlte er sich neben ihr älter werden, während sie in seiner Vorstellung dieselbe blieb: jung, mager, auf ihn angewiesen.
Seit Daniels Adoption hatte sich die Art, wie er über seine Mutter dachte, verändert. Früher hatte er die Panik über ihren Verlust gefühlt, das Zerren und Reißen und den Schmerz. Jetzt hätte er sie am liebsten getröstet. Er erinnerte sich, wie er ihre Stirn gestreichelt und eine Strickjacke über sie gebreitet hatte, als sie auf dem Sofa schlief: schwarze Augen und blaue Lippen, die ihn anlächelten. Er wollte nicht mehr zu ihr weglaufen. Er wünschte sich, mehr als ihr Chaos, die Ruhe seines neuen Lebens, aber nun träumte er davon, sie in dieses neue Leben hereinzuholen. Minnie könnte auch sie adoptieren; sie könnte auf dem Sofa schlafen und Ray Charles hören, während Daniel aus dem Garten Rhabarber-Regenschirme holte und Gemüse zwischen die flinken Lippen der Ziegen schob.
Unten hatte Minnie den Porridge auf dem Herd. Sie war in ihrem Morgenmantel, die nackten, dreckigen Füße auf dem Küchenfußboden. Die Sohlen ihrer Füße waren hart wie Leder. Abends beim Fernsehen legte sie ihre Füße auf einen Hocker, und Daniel klopfte manchmal mit einem Finger gegen die dicke gelbe Hornhaut. Sie konnte sich eine Reißzwecke eintreten und es erst eine ganze Woche später bemerken, nicht wegen der Schmerzen, sondern weil sie das Klack-Klack der Reißzwecke in ihrem Fuß auf den Dielenbrettern hörte. Dann legte sie den Knöchel über ihr Knie und entfernte den störenden Reißnagel – aber es würde kein Tropfen Blut fließen.
Als sie ihn hörte, kam sie mit dem Kochlöffel in der Hand zum Fuß der Treppe. Sie kniff ihm in die Wangen und drehte sein Gesicht zur Seite, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken.
»Guten Morgen, mein Schatz.«
Es war Sommer, und obwohl es noch vor sieben war, war der Tag strahlend hell, der Himmel ein fleckenloses Blau. Daniel schlüpfte in seine Stiefel und ging nach draußen, um die Tiere zu füttern. Seine Hände waren kalt, und Barbara trat und stampfte, als er ihr Euter berührte, also wärmte er sie erst in seinen Achselhöhlen, bevor er es noch mal versuchte.
Die Ziegen, nun wieder beisammen, schmiegten sich aneinander und beschnüffelten sich, und Daniel trug die Milch zu Minnie hinein.
»Du bist ein guter Junge«, sagte sie und stellte ihm seinen Porridge mit einer heißen Tasse Tee hin, in den sie, wie Daniel wusste, bereits Milch und Zucker für ihn getan hatte. »Ich geh mich anziehen.«
Als sie zurückkam, machte Daniel gerade Toast. Er fragte sie, ob sie welchen wollte.
»Bloß eine halbe Scheibe, Liebling. Mir reicht mein Tee.«
Daniel gab ihr eine ganze Scheibe, weil er wusste, dass sie sie sowieso essen würde. Sie schwatzte mit ihm über den Garten und das Loch im Dach, und wie sie wohl jemanden finden könnte, der es nächste Woche reparierte. Das sagte sie nun schon seit Monaten. Sie fragte, was er heute machen wolle, da es ja Samstag war. Wenn das Wetter schön bliebe, könnten sie ja einen Spaziergang machen, oder wenn es regnete, könnten sie am Nachmittag Filme gucken und ganze Packungen Kartoffelchips knuspern. Manchmal kochte und backte Minnie drinnen, während Danny auf dem Hof einen Fußball herumkickte.
Daniel zuckte die Achseln. »Du weißt doch, was ich gerade gedacht habe«, sagte er, biss ein kleines Stück von seinem Toast ab und beobachtete ihr Gesicht.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher