Der Schuldige: Roman (German Edition)
Fenster hoch, das zu seinem Zimmer gehört hatte. Er ballte die Hände zu Fäusten in seinen Hosentaschen.
Er ging um die Rückseite des Hauses herum. Der Hühnerauslauf war noch da, aber leer. Die Tür des Schuppens bewegte sich im Wind hin und her, und ein paar weiße Federn hingen am Maschendrahtzaun. Es war keine Ziege da, aber Daniel sah die Abdrücke von Hufen im Morast. Könnte es sein, dass die alten Ziegen sie überlebt haben? Daniel seufzte, als er an die Tiere dachte, die Minnie verlassen hatten und ersetzt wurden wie die Pflegekinder, die sie aufgezogen und dann immer wieder hatte gehen lassen müssen.
Daniel zog seine Hausschlüssel aus der Tasche. Neben dem Schlüssel zu seiner Londoner Wohnung hatte er noch immer Minnies Hausschlüssel. Denselben Yale-Schlüssel aus Messing, den sie ihm gegeben hatte, als er ein Junge war.
Im Haus roch es feucht und still, als er die Tür öffnete. Aus seiner Tiefe griff die Kälte nach ihm wie alte Hände. Er schlüpfte hinein und zog sich die Ärmel seines Pullis über die Finger, um sie zu wärmen. Das Haus roch noch immer nach ihr. Daniel stand in der Küche und ließ die Finger von der überfüllten Arbeitsfläche zum Nähzeug, zu den Kartons mit Tierfutter und den Gläsern mit Münzen, Knöpfen und Spaghetti gleiten. Auf dem Küchentisch stapelten sich Zeitungen. Aufmerksame Spinnen flitzten von den Dielenbrettern davon.
Er machte den Kühlschrank auf. Es lagen nicht viele Lebensmittel darin, aber er war nicht geleert worden. Die Tomaten waren verschrumpelt und trugen pelzige graue Hauben. Die halbe Flasche Milch war gelb und sauer. Salat zu Seetang verwelkt. Daniel machte die Tür wieder zu.
Er ging ins Wohnzimmer, wo die letzte Zeitung, die sie gelesen hatte, aufgeschlagen auf der Couch lag. Es war ein Dienstag gewesen, als sie das letzte Mal im Haus gewesen war. Er sah sie vor sich, wie sie mit hochgelegten Füßen den Guardian las. Er berührte das Papier und verspürte ein Frösteln. Er fühlte sich ihr nahe und zugleich weit entfernt von ihr, als wäre sie eine Spiegelung in einem Fenster oder See.
Ihr altes Klavier am Fenster war aufgeklappt. Daniel zog den Hocker hervor, setzte sich und hörte, wie das Holz unter seinem Gewicht ächzte. Er trat mit dem Fuß vorsichtig auf eines der Pedale und ließ die Finger schwer auf die Tasten fallen, die unter seiner Berührung dissonante Töne von sich gaben. Er erinnerte sich an Nächte als Kind, in denen er nach unten geschlichen war und auf der Treppe gesessen hatte, um ihrem Spiel zuzuhören, während er mit den Zehen des einen Fußes die anderen wärmte. Sie spielte langsame, traurige, klassische Stücke, die er damals nicht gekannt hatte, aber die er zu benennen lernte, als er älter wurde: Rachmaninow, Elgar, Beethoven, Ravel, Schostakowitsch. Je betrunkener sie wurde, desto lauter spielte sie und desto öfter griff sie daneben.
Er erinnerte sich, wie er in der kalten Diele gestanden und sie durch die halb offene Wohnzimmertür beobachtet hatte. Sie haute so heftig auf die Tasten, dass das Klavier unter ihr zu protestieren schien. Ihre schwieligen nackten Füße traten auf die Pedale, während ihr Strähnen ihrer grauen Locken ins Gesicht fielen.
Daniel lächelte, als er einzelne Töne auf dem Klavier anschlug. Er konnte nicht spielen. Sie hatte versucht, es ihm ein-, zweimal beizubringen. Sein Zeigefinger drückte auf die Tasten, dann lauschte er auf deren Klang: kalt, zitternd, einsam. Er schloss die Augen, erinnerte sich; im Zimmer hing noch immer dumpf und schwer der Geruch nach Hund. Was war mit dem Hund passiert, als Minnie starb?, fragte er sich.
Am 8. August jedes Jahres, das er sie gekannt hatte, betrank sie sich bis zur Bewusstlosigkeit, während sie sich immer und immer wieder dieselbe Schallplatte anhörte. Es war eine Platte, die er nicht einmal berühren durfte. Sie verwahrte sie fest in ihrer Hülle bis auf diesen einen Tag im Jahr, an dem sie sie sich im Kreis drehen und die feine Nadel des Tonabnehmers ihre feinen Gewindegänge absuchen ließ. Sie saß dann im Halbdunkel des Wohnzimmers, das nur durch das Feuer erleuchtet war, und hörte sich Ravels Klavierkonzert in G-Dur an. Erst auf der Universität erfuhr Daniel den Namen des Stücks, aber jede Note hatte er sich schon lange davor eingeprägt.
Einmal hatte sie ihn bei sich sitzen lassen. Er war dreizehn oder vierzehn gewesen, und noch immer versuchte er, sie zu begreifen. Sie hatte ihn aufgefordert, still zu sitzen, von ihr
Weitere Kostenlose Bücher