Der Schutzengel
angeschossen wurde und als Querschnittgelähmte zurückblieb …
Wie lange bemühten die Schicksalsmächte sich, einmal veränderte Entwicklungslinien doch wie ursprünglich vorgesehen durchzusetzen? Chris lebte nun schon seit über acht Jahren. Reichte das aus, um das Schicksal davon zu überzeugen, daß seine Existenz hinnehmbar war? Sie selbst lebte seit 34 Jahren außerhalb des Rollstuhls. Machte das Schicksal sich noch immer Sorgen wegen dieser widernatürlichen Veränderung des ursprünglichen Plans?
Das Schicksal bemüht sich, ursprünglich vorgesehene Entwicklungslinien durchzusetzen.
Während die erste Morgendämmerung sich an den Rändern der Vorhänge ins Zimmer stahl, wälzte Laura sich schlaflos in ihrem Bett und war wütend, ohne recht zu wissen, gegen wen oder was sich ihr Zorn richten sollte. Was war das Schicksal? Wer war diese Kraft, die Entwicklungslinien festlegte und durchzusetzen versuchte? Gott? Sollte sie Gott zürnen – oder ihn bitten, ihren Sohn leben zu lassen und sie vor einem Behindertendasein zu bewahren? Oder war die Macht des Schicksals lediglich ein natürlicher Mechanismus, eine natürliche Gegebenheit wie die Schwerkraft oder der Erdmagnetismus?
Da es kein logisches Objekt gab, gegen das ihre Emotionen sich hätten richten können, spürte Laura, wie ihre Wut sich allmählich zu Angst wandelte. In der Villa des Ehepaars Gaines in Palm Springs schienen sie in Sicherheit zu sein. Nachdem sie hier eine ungestörte Nacht verbracht hatten, stand fast sicher fest, daß ihre Anwesenheit niemals öffentlich bekannt geworden war, denn sonst wären längst Killer aus der Vergangenheit eingetroffen. Trotzdem hatte Laura Angst.
Irgend etwas Schlimmes würde passieren. Etwas sehr Schlimmes.
Ihnen drohte Gefahr. Aber sie wußte nicht, aus welcher Richtung.
Blitze. Schon bald.
Schade, daß die alte Redensart nicht stimmte: Der Blitz schlug sehr wohl zweimal an derselben Stelle ein oder dreimal oder hundertmal, und sie war der zuverlässigste Blitzableiter, der ihn anzog.
Nachdem Dr. Jüttner am Programmierpult der Zeitmaschine die letzten Zahlen eingegeben hatte, erklärte er SS-Obersturmführer Klietmann: »Sie und Ihre Leute kommen im Januar 1989 bei Palm Springs in Kalifornien an.«
»Palm Springs?« Klietmann war überrascht.
»Ganz recht. Wir hatten natürlich erwartet, daß Ihr Ziel in Los Angeles oder im Orange County liegen würde, wo Ihre Aufmachung als Jungmanager besser hingepaßt hätte als in einen Fremdenverkehrsort, aber Sie werden trotzdem nicht auffallen. Immerhin ist’s dort jetzt Winter, und selbst in der Wüste werden der Jahreszeit entsprechend dunkle Anzüge getragen.« Jüttner gab Klietmann einen Zettel, auf dem er genaue Angaben notiert hatte. »Hier finden Sie die Frau und den Jungen.«
»Was ist mit Krieger?« fragte der SS-Führer, während er den Zettel zusammenfaltete und in die innere Brusttasche seiner Jacke steckte.
»Der Erkundungstrupp hat keine Spur von ihm gefunden«, antwortete Jüttner, »aber er muß bei der Frau und dem Jungen sein. Sollten Sie ihn nicht sehen, müssen Sie versuchen, die beiden gefangenzunehmen. Vielleicht erweist es sich als unumgänglich, die beiden zu foltern, um Kriegers Aufenthaltsort zu erfahren. Sollte auch das nicht zum Erfolg führen, legen Sie die beiden um. Vielleicht bringt das unseren Mann dazu, irgendwo entlang der Zeitlinie aufzutauchen.«
»Wir finden ihn, Herr Doktor!«
Klietmann, Hubatsch, Stein und Bracher trugen jeder den Kupfergürtel unter dem Anzug von Yves Saint-Laurent. Mit ihren Mark-Cross-Aktenkoffern in der Hand traten sie ans Tor, stiegen in den riesigen Stahlzylinder und bewegten sich auf den Zweidrittelpunkt zu, an dem sie in Sekundenbruchteilen von 1944 nach 1989 gelangen würden.
Der Obersturmführer verspürte Angst, aber auch überschäumenden Jubel. Er war die eiserne Faust Hitlers, der Krieger auch nicht 45 Jahre entfernt in der Zukunft entgehen würde.
Am Sonntag, dem 15. Januar 1989, ihrem ersten Tag in der Villa in Palm Springs, bauten sie den Computer auf, und Laura unterwies Stefan in seiner Bedienung. Das IBM-Betriebssystem und die für ihre Zwecke nötige Software waren extrem benutzerfreundlich, und obwohl Stefan abends noch weit davon entfernt war, ein Computerexperte zu sein, verstand er zumindest, wie das Gerät funktionierte und was man von ihm erwarten konnte. Allerdings würde er ohnehin nur selten am Computer sitzen; dafür war Laura zuständig, die schon Erfahrung mit
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