Der schwarze Fürst der Liebe
Eis.
In jedem Augenblick zerschlägt er tausend Becher,
näht hundert Kleider und reißt sie dann in Fetzen.
Zehntausend Augen bringt er zum Weinen,
und ihn bringt das zum Lachen.
Tausend metzelt er hin, und sie sind ihm einerlei.
Niemand entrinnt seinen Ketten durch List oder Wahnsinn,
niemand entschlüpft seinen Netzen, wie weise er auch sei.
Mortiferius ließ sich auf einen der Sessel sinken.
Mit dem Buch in der Hand gestattete er sich zum ersten Mal wieder, an Engellin zu denken. Er hatte sie verloren. Sie war nicht seine Geliebte, jedoch existierte zumindest etwas wie Freundschaft zwischen ihnen – auch wenn er nie viel mit ihr gesprochen hatte. Sie verband ein stilles Einverständnis und ihre gemeinsame Liebe zu – Bartel. Du wolltest sie vor ihm und seinem Leichtsinn beschützen, dachte er, aber hattest du überhaupt das Recht dich einzumischen? Er schloss die Augen. Sie war so nah bei ihm gewesen während des Turniers. Er hatte ihre Stimme gehört, die ihm so vertraut war. Allzu oft war ihr Gesang durch die Wände der Holzhäuser zu ihm gedrungen. Engellin kannte ein Lied für jedes ihrer Gewerke, so wie ein Schmied sang, der den Zeitraum maß, wie lang ein Schwert in der Glut verharren musste. Engellin hatte viel bei der Zubereitung ihrer Medikamente und Tränke gesungen – Worte und Melodie bestimmten den Zeitpunkt der Fertigstellung. Mortiferius dachte an ihre Lippen. Warum war er nie derjenige gewesen, der sie küssen durfte? Wie es ihr wohl ging? Maus würde hoffentlich weiterhin bei ihr sein und sie beschützen. Er hatte die Sehnsucht nach ihr in sich eingesperrt, verschlossen in eine Truhe und den Schlüssel dazu noch tiefer in sich vergraben.
Langsam nahm er das Buch wieder auf, aber konnte die Worte nicht mehr deutlich erkennen. Sein Blick hatte sich verschleiert. Waren das Tränen? Das durfte nicht sein!
Er fuhr zusammen, denn jemand hatte die Tür der Bibliothek geöffnet. Er wischte sich rasch mit dem Ärmel über die Augen.
Die Königin betrat den Raum, ein Buch an die Brust gepresst. Sie war bereits im Schlafgewand mit leichtem Morgenrock, das aufgelöste, nachtschwarze Haar wallte lang ihren Rücken hinab. Barfuß näherte sie sich einem der Regale und fuhr erschreckt zusammen, als sie Mortiferius wahrnahm. Er erhob sich, legte den Gedichtband auf den Sessel und verneigte sich tief.
»Ich habe Euch nicht bemerkt«, keuchte sie überrascht.
Er richtete sich auf und blickte in ihr Gesicht. Sie fasste sich sofort. »Ich weiß selbstverständlich, dass Ihr Euch hier mit Erlaubnis meines Gatten aufhaltet. Ich möchte Euch nicht weiter stören.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und fingerte an ihrem Morgenrock.
»Ihr stört mich nicht«, antwortete Mortiferius betont freundlich und erwiderte ihr Lächeln.
Sie hatte nicht mit ihm gerechnet und er spürte, dass ihr das Nachtgewand unangenehm war.
»Wenn Ihr mich entschuldigen würdet.« Mortiferius und verneigte sich erneut.
Die Königin nickte. »Ihr dürft Euch entfernen.«
Er blickte zu dem Buch, das immer noch auf dem Polstersessel lag. Sollte er es ins Regal zurückstellen? Die Regentin bemerkte seinen Blick und nahm den aufgeschlagenen Band in die Hand.
»Der schwarze Fürst der Liebe«, zitierte sie halblaut. »Das ist ein wunderschönes Werk.«
Er entfernte sich mit gemessenen Schritten. Als er die Tür schloss, sah er, wie die Königin versunken mit dem Buch an seiner statt in dem Sessel saß und las.
Mortiferius lag schlaflos im Bett. Seine Aufgabe für den nächsten Tag war klar. Er musste Stärke zeigen und irgendwelche Zweifel an seiner Autorität im Keim ersticken. Nur so konnte er die Palastwache führen. Ob er sich für diese Zusammenkunft bewaffnen sollte? Er entschied, zumindest ein Messer mitzunehmen. Aber wo war es? Bestimmt hatte Matthias es zusammen mit seinen anderen Waffen verstaut. Ob er schon schlief?
Mortiferius erhob sich und öffnete die Tür zu dessen Stube. Eine einzelne Kerze flackerte auf einem kleinen Tisch neben Matthias’ Bett. Mortiferius trat näher und wollte ihn wecken. In diesem Moment erkannte er das, was der schlafende Junge in der fest auf die Brust gepressten Faust hielt. Es war sein eigenes Haar – die Strähnen, die der Bursche ihm am Abend abgeschnitten hatte. Er hatte sie liebevoll mit einem Band umwickelt.
Das war der endgültige Beweis. Der Knabe liebte ihn. Er ließ sich auf die Bettkante sinken, betrachtete den Jungen, dessen halblange Locken sich auf dem Kissen
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