Der schwarze Fürst der Liebe
Hände zitterten. Wie in Trance erhob sie sich. Die beiden Männer blickten sie besorgt an. »Ich komme gleich wieder.« Sie musste sich dringend fassen, wollte nicht zeigen, wie stark sie die Nachricht berührte. Den Brief an die Brust gepresst ging sie hinaus – nahm sofort die nächste Tür in den Stall. Dort setzte sie sich auf die Futterkrippe der Kuh und las die Worte erneut. So also hatte sich der Überfall zugetragen.
Sie erhob sich, schritt ruhelos in dem kleinen, mit Tiergeruch erfüllten Raum umher und rang mit ihrer Beherrschung, um nicht wütend zu werden. Ihr war nun klar, was Rudger getan hatte, aber sie verstand nicht genau, wieso. Er schilderte seinen Verrat nüchtern: wie er Bartel bewusst in eine Falle gelockt hatte. Er wollte seinen Erpresser loswerden. Das konnte doch nicht alles sein! Gedankenverloren streichelte sie den Kopf der Kuh, deren Kiefer ruhig und gleichmäßig malmten.
Da war noch etwas, das er nicht schrieb: Es ging um sie. Er hatte verhindert, dass die Rache Warrenhausens und des Fürsten sie traf. Denn die wäre nach dem Diebstahl unweigerlich erfolgt. Die beiden mächtigsten Männer der Gegend ließen sich nicht so einfach bestehlen! Durch Bartels Tat war sie in große Gefahr geraten. Warum hatte Rudger ihn nicht davon abgehalten? Sie gab sich die Antwort selbst: Bartel hätte nicht auf ihn gehört. Rudger hätte ihn bewusstlos schlagen sollen, bis der Reiter vorüber war – alles, nur nicht der Tod, dachte sie verzweifelt. Aber dieser Berittene war der verhasste Warrenhausen, dem sie ihre Folter, ihre Kinderlosigkeit verdankte und der ihn erpresste. Also opferte Rudger seinen besten Freund, um sich aus der Klemme zu befreien. Jedoch hatte er das auch getan, um sie zu schützen?
Sie drehte und wendete das zerknitterte Pergament, in der Hoffnung noch mehr zu entdecken als nur die Worte, die sie bereits kannte, und ließ sich erneut auf den Rand des Futtertrogs sinken. Was wusste sie von Rudger? Wie hatte er sich verhalten? Sie erinnerte sich, wie er bei der Versammlung am Tisch saß, sah ihn mit Bartel von der Jagd kommen. Sie dachte an all seine Blicke – die offenen und die verstohlenen. Nun fiel es ihr wie Schuppen vor die Augen: Rudger liebte sie. Es war ihr nie aufgefallen, weil sie nur Bartel gesehen hatte. Er hatte ihn ermorden lassen, um sie zu schützen und – der Verdacht lag nahe – um seinen Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen. Vielleicht lag sie mit ihrer Vermutung falsch. Er hatte sich stets zurückhaltend und höflich gezeigt. Sie war als Frau seines besten Freundes unantastbar für ihn. Wie reimte sich das alles zusammen?
Und jetzt dieser Brief. Er quälte sich mit seiner Schuld. Das geschieht ihm recht, dachte sie. Ihm hat nicht gereicht, was Bartel für ihn und die ganze Bande getan hat. Er wollte hoch hinaus, jedoch war nur fähig, sich Reichtum und Wohlstand zu ergaunern. Aber war nicht auch Bartel ein Strauchdieb und Wegelagerer gewesen? Ihre Gedanken kreisten.
Plötzlich schob sich das Bild dieser Tat in ihren Kopf. Sie hatte in ihrer Vision Rudgers versteinertes Gesicht erblickt. Nun wusste sie, warum er so ausgesehen hatte: Es war die Miene des Mannes, der den besten Freund durch eigenen Verrat zu seinen Füßen sterben sieht. Sie keuchte. Seine Gründe waren ihr gleichgültig. Er hatte ihr den Liebsten genommen! Ihr Magen rebellierte, wenn sie daran dachte, wie er blutüberströmt Bartels Leichnam zu ihr gebracht hatte. Seine Arme waren zerschnitten, sein Kopf blutig geschlagen gewesen. Wieso war ihr beim Verbinden nicht aufgefallen, dass diese Wunden aussahen wie selbst zugefügt? Ein Ablenkungsmanöver, um einen Kampf vorzutäuschen.
Entschlossen stand sie auf und ging ins Haus, in dem der Bote noch wartete. Sie nahm Papier und Feder und schrieb: »Warum hast du mir das angetan? Ich hasse dich! Engellin « Sie faltete das Schreiben zusammen und holte Siegelwachs, drückte ihr Heilerinnensiegel in das heiße Wachs und reichte dem Kurier die Nachricht.
»Ich danke Euch.«
Der Mann nickte, erhob sich und ging zur Tür, schloss sie leise hinter sich.
Engellin ließ sich neben Maus auf die Bank fallen. Das war alles ungerecht! Sie blickte in seine bekümmerten, dunklen Augen. Er verstand nicht, was eben geschehen war. Nur er war noch da. Ja, sagte ihre innere Stimme, nur er und Rudger leben noch. Er hat es nicht verdient zu leben, antwortete sie. Ist das wirklich so?, fragte die Stimme. Er bereut seinen Fehler und leidet wie ein Hund. Vielleicht
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