Der schwarze Krieger
Nachmittag und vor allem am Abend, bei den feuchtfröhlichen Gelagen, war weit mehr, als die höfische Etikette erforderte. Seine Zärtlichkeiten brachten alle Anwesenden in Verlegenheit. Der Klatsch wurde zum Skandal, bis er schließlich auch von denen geglaubt wurde, die zu Galla hielten. Der Chronist Olympiodorus spricht von «ständigen sinnlichen Berührungen und kleinen Küssen». Galla entzog sich ihm angewidert und schockiert, und langeZeit herrschte zwischen Bruder und Schwester eine Atmosphäre gegenseitiger Schuldzuweisungen.
Einige Schwätzer und Hofschranzen flüsterten den Leuten ins Ohr, die Prinzessin habe nur zu bereitwillig den amourösen Vorstößen ihres Bruders nachgegeben und sei erst zornig geworden, als der Skandal ruchbar geworden war. Obwohl diese Dinge in Herrscherfamilien wie gesagt keineswegs selten vorkommen, halte ich persönlich Galla nicht für schuldig. Eines war sie mit Sicherheit nicht: eine Sklavin ihrer Begierden. Sie war niemandes Sklave, nie.
Bisher hatte sie sich in jeder Situation, die ihr das Schicksal in ihrem kurzen, aber turbulenten Leben auferlegt hatte, beherrscht, doch nun schien die arme Frau gar nicht mehr zu wissen, was sie tun sollte. Hier handelte es sich schließlich um den kaiserlichen Herrscher. Und wenn er nun eines Abends, erhitzt vom Wein und verbotener Leidenschaft, das Unmögliche verlangte …? Es war unvorstellbar, und doch hätte es sie in äußerste Gefahr gebracht, ihn abzuweisen.
Es gab nur einen Ausweg: Sie musste fliehen. Wie Aëtius selbst vor den unvorhersehbaren, verrückten Anwandlungen des Kaisers geflohen war, musste sie hoffen, dass er sie vergessen würde, sobald sein wankelmütiges Herz sich jemand anderem zuwandte.
Und so ging Galla in einer mondlosen Nacht in Ravenna zusammen mit ihrem drei Jahre alten Sohn Valentinian und der kleinen Honoria, noch ein Säugling, an Bord eines Schiffes, das sie nach Konstantinopel bringen sollte. In Split, auf der anderen Seite der Adria, stieß ein kleiner Trupp Soldaten zu ihnen. Einer von ihnen trug den feinen scharlachroten Mantel eines Generals.
«Pünktlich wie immer, General Aëtius», begrüßte ihn Galla, als er an der Spitze seiner Männer das Schiff betrat.
Elegant sprang er von der Laufplanke. «Wie immer für Euch, Euer Majestät.»
Galla wandte sich in der Dunkelheit ab und lächelte.
8.
Das neue Rom
Und so gelangten Aëtius und Galla gemeinsam in die goldene Stadt Konstantinopel.
Wie soll man diese königliche Metropole beschreiben, die Stadt der schimmernden Türme und goldenen Kuppeln, voll erhabener Monumente und marmorner Bodenplatten, die so herrlich am Goldenen Horn gelegen ist? Sie überblickt den Bosporus, das Bindeglied zweier Kontinente, Europa und Asien, und es scheint, als knieten beide demütig vor ihrer stolzen Herrin. Abgesehen von Rom liebte ich, Priscus von Panium, keine Stadt so sehr wie Konstantinopel. Sie war so modern und wirkte, wie sie am sonnenglänzenden Marmarameer einfach dalag, vergleichsweise unschuldig. Dieses neue Rom ließ das alte dunkel, blutrünstig und korrupt erscheinen, befleckt von den Jahrhunderten seiner Geschichte und den dunklen Begierden der Menschen.
Konstantinopel hatte damals eine Million Einwohner, und sie nannte den schönsten natürlichen Hafen der Welt ihr Eigen. Fast zweihundert Jahre zuvor hatte Konstantin der Große die Stadt an der Stelle des ehemaligen griechischen Fischerhafens Byzantium gegründet; nun war sie die neue Hauptstadt des Römischen Imperiums und wurde nach dem Gottkaiser selbst benannt. Falsche Bescheidenheit konnte man Konstantin gewiss nicht nachsagen.
Die stolze neue Hauptstadt war ein Ort atemberaubenden Reichtums und monumentaler Architektur. Der Reichtum seiner Gewässer war sprichwörtlich. Man brauche nur einen Köder ins Wasser zu werfen, so hieß es, und habe im Handumdreheneinen dicken Fisch an der Angel. Mit seinen öffentlichen Krankenhäusern, den vom Staat bestallten Ärzten und Lehrern, den kostenlosen Veranstaltungen zur allgemeinen Volksbelustigung, einem ausgefeilten Post-, Steuer- und Zollsystem, der Straßenbeleuchtung, der Preisbindung und seiner nie versiegenden Sportbegeisterung war sie fürwahr eine äußerst moderne Stadt.
Drei Dinge waren es, die ganz Byzanz einten: der christliche Glaube, die römische Staatsbürgerschaft und die Leidenschaft fürs Wagenrennen. Letzteres führte dazu, dass jeder, vom Kaiser bis zum Sklaven, entweder ein Blauer oder ein Grüner war, je nachdem,
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