Der Schwarze Mandarin
der geschundene Körper – das war er selbst, er, Hans Rathenow …
Mit einem dumpfen Schrei schreckte Rathenow hoch und saß aufrecht im Bett. Der Radiowecker zeigte drei Uhr morgens an. Offenbar hatte er über 15 Stunden lang geschlafen. Er griff sich an die Brust und zog die Hand zurück. Naß von Schweiß, sein ganzer Körper klebte. Und in seinem Kopf summte und brummte es wie in einem riesigen Bienenstock.
Er stand auf, trocknete sich mit dem Badetuch, das vor dem Bett lag, ab, ging hinunter in die Bibliothek, setzte sich in einen Ledersessel, holte dann, sofort wieder aufspringend, eine Flasche Wodka aus der Hausbar und eine Zigarre aus dem Mahagoni-Klima-Kasten, kehrte zum Sessel zurück, warf sich hinein und steckte sich mit zitternden Fingern die Havanna an. Die ersten beiden Gläser Wodka kippte er pur in sich hinein.
So wird es sein, genauso. Der Traum hat mir gezeigt, was mich erwartet. Sie werden mich Teil um Teil verstümmeln, wenn ich keinen Gehorsam beweise. Und wie mir wird es auch Liyun ergehen – das ist das Schlimmste. Welch ein braver Jungen-Verein ist dagegen die italienische Mafia; wenn sie tötet, dann wenigstens nicht stückchenweise.
*
Rathenow blieb bis zum Morgen in seinem Sessel sitzen; es war ihm nach diesem Traum unmöglich, sich wieder hinzulegen. Er hatte es dreimal versucht, aber jedesmal bekam er keine Luft mehr, klopfte ihm das Herz bis in den Hals, und ein unerträgliches Kribbeln lief durch seinen Körper.
Als er die Vorhänge aufzog, fiel die helle Morgensonne ins Zimmer. Der Garten war eine einzige bunte Blumenpracht. Rathenow hatte heute keinen Blick dafür, so gern er sonst in seinen Garten blickte. Er war betrunken und stützte sich beim Gehen gegen die Wände. Und plötzlich brach er wie vom Blitz getroffen zusammen. Er stand mitten in der großen Eingangsdiele, nackt, schwitzend und besoffen, reckte den Kopf hoch und breitete beide Arme aus. »Liyun!« brüllte er. »Liyun! Liyun!« Und dann weinte er wie ein kleines Kind.
Sein Geschrei, das in der riesigen Diele widerklang, löste seine innere Spannung. Er weinte noch immer, als er auf einen Fauteuil sank und beide Hände vor das Gesicht schlug. Drei Tage lebte er in einer Art von Selbstzerfleischung. Er saß herum, aß kaum etwas, stierte vor sich hin, zermarterte sein Gehirn mit Hunderten sinnloser Gedanken, rannte im Garten herum – und trank. Wodka, immer wieder Wodka. Wenn er sich mit dem Alkohol betäubt hatte, fühlte er sich wohl. Er hing dann in einem der Sessel in seinem Arbeitszimmer, fast bewegungslos, und schlief in dem Sessel auch ein.
Am vierten Tag nach seiner Rückkehr schreckte ihn das Schrillen des Telefons hoch. Er griff nach dem Hörer, meldete sich und hörte eine Stimme, die ihn sofort alarmierte. Es war der gleiche Tonfall, den er in Kunming so oft gehört hatte. Nur sprach der Anrufer nicht Englisch, sondern in einem guten Deutsch mit ihm.
Die Triaden meldeten sich. 14K drängte sich endgültig in sein Leben.
»Ich nehme an, Sie haben sich von der Reise erholt!« sagte die Stimme mit triefender Freundlichkeit, »ich begrüße Sie in unserem Kreis. Ich bin der ›Direktor‹ für Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland.«
»Von Erholung kann keine Rede sein.« Rathenow war mit einem Schlag nüchtern. Sein Hirn arbeitete wieder mit der gleichen Präzision wie immer. Er wollte nicht gleich kapitulieren. Er wollte sich vorsichtig widersetzen. Widersetzen, indem er vorgab, nicht zu begreifen.
»Was wünschen Sie?«
»Ich möchte Sie sehen und mit Ihnen sprechen.«
»Warum?«
»Das sage ich Ihnen bei unserem Treffen.«
»Ich habe meine Mission erfüllt. Pulverkaffee und Milchpulver sind bei Ihnen gelandet. Das war's doch.«
»Ihre ›Gefälligkeit‹ ist kaum von Bedeutung.«
»Genauso habe ich es auch gesehen.«
»Ich sagte: kaum … Eben darüber müssen wir uns unterhalten. Ich schlage vor, wir sehen uns heute abend.«
»Wo?«
»Treffpunkt ›Der Schwarze Mandarin‹. Um 20 Uhr. Ich möchte Sie zum Essen einladen. Einverstanden?«
»Ich komme.«
Rathenow legte auf. Er war sich klar darüber, daß dies eine Beleidigung war, aber er wollte nicht kampflos aufgeben. Sie haben es verdammt eilig, dachte er. Nicht einmal vier Tage lassen sie mich in Ruhe. Aber was wollen sie von mir? Die Drohungen von Kewei Tuo lassen den Schluß zu, daß es etwas Außergewöhnliches sein muß. Seit wann haben die Triaden ein solches Interesse an uns ›Langnasen‹?
Er duschte sich und zog
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