Der Schwarze Mandarin
zu empfangen. Jetzt um die Mittagszeit ist allerhand los bei uns, ich muß sofort zurück an die Arbeit. Ich bin Kellner im China-Restaurant ›Der Schwarze Mandarin‹. Kennen Sie das Lokal?«
»Nein. Ich habe nur von ihm gehört.«
»Das beste China-Restaurant von München. Der Besitzer, Herr Xing Datong, läßt Sie grüßen.«
»Das freut mich aber!« Bitterer Spott lag in Rathenows Stimme. »Haben Sie eine Tasche bei sich?«
»Nur eine Plastiktüte.« Der Chinese holte die zusammengeknüllte Tüte aus der Rocktasche und faltete sie auf. Es war die Reklametüte eines Möbelgeschäftes. Sie zeigte ein französisches Bett, einsachtzig mal zwei Meter, mit üppig geblümter Tagesdecke und darüber die Schrift: Wer gut liegt, schläft besser.
Rathenow holte Kaffeeglas und Milchdose aus seiner Reisetasche und steckte sie in die Plastiktüte. »Damit habe ich meine Pflicht erfüllt«, sagte er.
»In Ordnung. Der Chef wird zufrieden sein. Er trinkt gerne Kaffee aus Yunnan.«
»Ihr Chef muß – gelinde ausgedrückt – ein Verrückter sein!«
»Fragen Sie ihn selbst. Sie hören noch von uns. Wir rufen Sie an. Auf Wiedersehen.«
»Wenn es sein muß …«
Rathenow wartete, bis der Chinese die Halle verlassen hatte, schob dann seine Koffer vor die Tür und weiter zum Taxistand. Der Taxifahrer stemmte die Koffer in den Wagen.
»Jei!« sagte er dann. »Hoaben S' Steine mitbracht?«
»Nein, alles Opium. Ich war in China.«
Der Taxifahrer grinste. »Ist a chinesisch Madel im Koffer? Hoaben Sies rüberschmuggelt?«
»Schön wär's.« Rathenow setzte sich neben den Fahrer. München. Endlich zu Hause. Der vertraute Ton, die unkonventionelle Anrede, der Witz, die richtig dosierte Herzlichkeit – für einen Augenblick ließ der Druck in der Brust nach. Zu Hause – gab es das noch für ihn? War der ehemalige Rathenow nicht in China geblieben? War er jetzt nicht nur noch ein Schatten seiner selbst? Eine chinesische Gliederpuppe, an deren Fäden andere zogen, um sie nach Belieben tanzen zu lassen? Bin ich noch ich? Mit wem kann man darüber reden, der wirklich den Mund hält, auf dessen Schweigen Verlaß ist?
»Wohin, Mann aus China?« fragte der Fahrer fröhlich.
»Akazienweg 19.«
»Doas is in Grünwald?«
»Genau. In der Nähe der Bavaria-Studios.«
»Kenn' i …«
Rathenow lehnte sich zurück, während das Taxi anfuhr und das Flughafengelände von Riem verließ.
»Müde?« fragte der Fahrer.
»Und wie. Dieser ewiglange Flug.«
Akazienweg 19. Die alte, ockerfarben gestrichene Villa. Der Gitterzaun mit dem hohen Gittertor. Der Blick in den seitlichen Garten mit den Blumenrondellen, den hohen Kastanienbäumen und den Rhododendronbüschen. Die Metalläden waren geschlossen. Ihn erwartete ja niemand.
Der Taxifahrer half Rathenow, die Koffer ins Haus zu tragen, und wünschte ein gutes Wiedereinleben in München. Rathenow gab ihm zehn Mark Trinkgeld. Er hatte sich wohl gefühlt in seiner Gegenwart. Der Fahrer warf einen Blick auf den Schein, sagte danke und ging zu seinem Wagen zurück. Zehn Mark Trinkgeld – der hat an groaßen Vogerl, an riesengroaßen …
Rathenow ließ die Koffer in der Diele stehen, ging die breite Treppe hinauf ins Bad, zog sich aus, warf seine Kleidung in eine Ecke, stieg unter die Dusche und ließ erst heißes, dann kaltes Wasser über seinen Körper laufen. Danach fühlte er sich erleichtert und frisch und dennoch unsagbar müde. Er ging ins Schlafzimmer, schlug die Bettdecke zurück und warf sich auf das Bett.
Erstaunlicherweise gelang es ihm, sofort abzuschalten, und er fiel ohne Übergang in einen tiefen Schlaf.
Irgendwann träumte er. China … eine ihm fremde Stadt … lehmgraue Häuser mit Steinplatten oder mit Binsenbüscheln gedeckt. Sonne. Staub überall, steile Treppen den Berg hinauf, an dessen Hang das Dorf gebaut war. Auf einer dieser Treppen ein Mann. Klein. Zerfetzte Kleider. Er ging nicht von Stufe zu Stufe, er kroch sie hinauf. Das Bild kam näher, vergrößerte sich wie bei einem Blick durch ein Zoomobjektiv, und er sah den Mann jetzt von vorn. Er hatte beide Beine bis zu den Knien verloren; sie waren mit Stücken von alten Autoreifen umwickelt, auf denen er sich fortbewegte, und er hörte eine Stimme, die Stimme einer Frau: »Sie haben ihm die Beine abgehackt. Faß ihn nicht an! Wer weiß schon, warum man das mit ihm getan hat!« Und das Bild kam noch näher, der zum Zwerg verstümmelte Mann blickte auf, sah ihn mit flehenden Augen an … und das Gesicht, die Augen,
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