Der Schwarze Mandarin
begangen hat:
Hat einer einen Mord begangen, wird er sich verstecken, ein wenig Haar ab schneiden und um den rechten Arm binden. Wenn er dann Zuflucht bei seinen Brüdern sucht, wird er sich das linke Auge reiben, und die Bruderschaft wird ihm Geld geben und ihm eine Möglichkeit zur Flucht verschaffen.
Wie man sich an den Handbewegungen erkennt:
Halte die Finger deiner rechten Hand über die Augenbrauen, als ob du sie zurechtstreichen wolltest; das wird Freude hervorrufen. Tong (Sommer), Quing (grün), Xiong (Casuarineen) und Pek (Arum) sind unsere Leute. Lege deinen Zeigefinger zwischen die Lippen und schließe sie leicht.
Rathenow schob das Papier von sich und lehnte sich zurück. Er bewunderte bei aller Abneigung gegen die Triaden ihre raffiniert durchdachten Geheimcodes. Wer achtet in einem chinesischen Restaurant darauf, wie jemand einen Tee anbietet, die Stäbchen überreicht oder einen beginnenden Streit beendet? Selbst ein Mord wird völlig harmlos signalisiert … Wie viele reiben sich das linke Auge? Diese chinesische Zeichensprache ist grandios und erschreckend zugleich, weil sie so einfach, so alltäglich erscheint. Min Ju beobachtete Rathenow genau. Schließlich fragte er:
»Kannst du das auswendig lernen, Bai Juan Fa?«
»Es ist einfacher als die verdammte Fingersprache. Man braucht keine artistische Hand zu haben.«
Min lachte laut und klopfte Rathenow auf die Hand. »Artistische Hand, das ist gut! Ein schöner Ausdruck. Ich werde ihn mir merken. Artist der Hände – das könnte ein neuer Triadenname werden.« Er zog das Papier zu sich herüber und versteckte es wieder in seiner Aktentasche. Rathenow war sich sicher, daß Min Ju diese Geheimanweisungen bis zum letzten verteidigen würde, wenn man sie bei ihm entdeckte. »Damit machen wir für heute Schluß«, sagte Min. »Du kommst am Dienstag wieder zu den Fingerübungen und zum Einprägen der Verständigungsgesten. Du mußt das alles so selbstverständlich können wie pinkeln.«
»Es gibt genug Menschen, die haben Mühe beim Pinkeln.«
Min lachte wieder. Von Stunde zu Stunde wurde ihm Rathenow persönlich sympathischer – als Triaden-Daih-Loh aber konnte er sich keine privaten Regungen leisten.
»Du gehörst nicht dazu«, sagte er.
»Und wenn ich es nicht auswendig lernen kann?«
»Ein jeder kann das! Wir haben Grassandalen, die können nicht lesen und nicht schreiben, aber sie sind perfekt in der Geheimsprache. Ich werde mit dir so lange üben, bis du es im Schlaf hersagen kannst. Du bist ein kluger, weiser Mensch. Ich würde böse werden, sehr böse, wenn du mir den Dummen vorspielst.« Min wurde wieder sehr ernst. »Glaubst du, Wang Liyun würde einen so dummen Mann lieben können? Wir müßten ihr das erzählen …«
Rathenow stand auf. Wenn der Name Liyun fiel, fühlte er sich völlig hilflos, ja willenlos. Bei jeder Nennung ihres Namens wußte er, daß eine Drohung dahintersteckte. Das brach in ihm jeden passiven Widerstand.
»Kann ich gehen?« fragte er.
»Das sagte ich schon. Gute Nacht, Bai Juan Fa.«
Rathenow verließ den ›Schwarzen Mandarin‹. Er war der einzige Gast. Der nette Kellner brachte ihm den versprochenen Nachtisch, eine große Schale gemischtes Eis mit Sahne. Obenauf steckte ein Schirmchen aus gefaltetem Papier.
»Wann kommst du wieder?« fragte der Kellner, der sich ihm gegenüber setzte.
»Dienstag.«
Er setzte sich noch einmal und trank noch eine Tasse grünen Tee hinterher und hielt sie so, wie er es eben gelernt hatte: Er legte Daumen und Zeigefinger um den oberen Rand und berührte mit dem Mittelfinger den Boden der Tasse. Der Kellner lachte laut, nahm ihm die Tasse aus der Hand und tat einen Schluck. Dann gab er sie zurück.
»Du kennst das auch?« fragte Rathenow.
»Wir alle von 14K müssen es können. Aber du machst es noch ziemlich ungeschickt.«
»Ich hatte heute meine erste Stunde. Es wird schon werden …«
Unten im Keller saßen Min Ju und Aisin Ninglin noch zusammen. »Ich mag ihn nicht«, sagte Ninglin zum wiederholten Male. »Es ist ein Fehler, Weiße als Cho Hais einzusetzen.«
»Die Idee kommt aus der Zentrale in Hongkong. Wer will an der Weisheit des Großen Rates der Großen Brüder zweifeln?«
»Auch in Hongkong kann man sich irren.«
»Bai Juan Fa ist ein Experiment. Hat es Erfolg, werden wir die ›Zahlesel‹ nur noch durch unauffällige Weiße besuchen lassen. Schlägt das Experiment fehl – Ninglin, ich habe dir gesagt, dann gehört Bai Juan Fa dir. Es darf keine Spur
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