Der Schwarze Mandarin
unerledigten Akten.« Benicke stand auf und trat ans Fenster. Auf der Straße flutete der übliche Verkehr, am Bahnhof gegenüber quollen Menschenmengen hinein und heraus. Es war wieder ein heißer Sommertag, die Männer liefen in kurzärmeligen Hemden herum, die Frauen in kurzen Röckchen und mit tiefen Ausschnitten. Der Himmel war fahlblau. Da lauft ihr sorglos herum und ahnt nicht, was in Münchens Untergrund passiert, dachte Benicke. Ihr habt die Zeitungen gelesen und wart einen Augenblick betroffen. Aber nur einen Augenblick, länger nicht. Zwei Russen … na und? Vielleicht Mafia-Mitglieder … sollen sie sich doch untereinander umbringen! Je mehr, um so besser. Die Polizei tappt im dunkeln … das sind wir gewöhnt! Protokolle wegen Falschparkens ausschreiben – das können sie. Aber bei den Bandenverbrechen stehen sie ohne Hosen da. Und wieder sollen es die Chinesen gewesen sein! So ein Blödsinn! Wie oft essen wir beim Chinesen … die sind immer freundlich, immer höflich, lächeln immer … nicht so muffelig wie viele deutsche Kellner, die beleidigt tun, wenn man sie ruft. Immer die Chinesen … dahinter versteckt die Polizei ihre Unfähigkeit. Was würde die wohl erklären, wenn es keine Chinesen gäbe? So aber kann man alles auf sie abschieben …
Benicke kam von Fenster zurück in das Zimmer. PP wußte, was in Benicke bohrte – es waren auch seine Gefühle.
»Wir sind die Watschenmänner Münchens«, sagte er. »Daran habe ich mich gewöhnt. Aber den Kollegen in Hamburg, Stuttgart, Frankfurt, Berlin und Düsseldorf geht es nicht anders. Überall, wo die Triaden ihre ›Drachenstädte‹ aufbauen, sind wir Polizisten wie die blinden Hunde, die einem Geruch nachschnüffeln, aber den Stinker nicht finden.«
»Man sollte die Öffentlichkeit mehr aufrütteln, Peter. Was sie an Informationen bekommt, ist doch beschämend. Jeder sollte wissen, daß …«
»Stopp!« Peter Probst schüttelte den Kopf. »Der Schuß würde sofort nach hinten losgehen. Die Medien werden genußvoll aufheulen: Fremdenhaß, rassistische Sprüche, Diffamierung fremder Völker und Hetze gegen Andersfarbige. Lebt nun auch in der Polizei der Nazigeist: Ausländer raus? – Was wir auch tun, man tritt uns immer in den Arsch. Schweigen wir und machen still unsere Arbeit, ist das falsch. Machen wir den Mund auf und sagen nur einen Teil der verborgenen Wahrheit, ist das Ausländerhaß. Die Menschheit ist schizophren geworden – das können wir nicht mehr bremsen. Gottes liebste Geschöpfe sind zu Irrläufern mutiert. Eines Tages werden wir vernichtet sein wie die Saurier. Wir werden an unserer blinden Großartigkeit zugrundegehen.«
»Warum bist du Kriminaler geworden und kein Philosoph?« fragte Benicke, aber es klang durchaus nicht spöttisch.
PP lächelte und hob bedauernd beide Hände. »Hab du mal einen Vater, der Kriminaloberkommissar war. Und dazu absoluter Patriarch im Haus.«
»Wie bei den Chinesen.« Benicke lachte laut. »Und jetzt hast du die Chinesen am Hals! Komm, pack deine Akten zusammen und mach für heute Schluß! Ich gebe einen aus. Wir fahren zum Augustiner-Biergarten.«
*
Vier Tage später zog Rathenow seinen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd an, band sich einen silbernen Schlips um, trank einen Wodka mit Orangensaft zur Stärkung, stieg dann in seinen Wagen und fuhr in die Stadt zum Restaurant ›Der Schwarze Mandarin‹.
Am Tage vorher hatte ihn Min Ju angerufen. »Bai Juan Fa«, hatte er gesagt, »morgen ist dein großer Tag! Es wird sehr feierlich werden. Bereite dich darauf vor, ein Hong zu werden! Pflanze die große Ehre in dein Herz!«
»Wie Sie befehlen, Min Ju!« hatte Rathenow geantwortet. Ein Krampf hatte seinen Körper erfaßt. Morgen! Morgen bist du nicht mehr Hans Rathenow. Morgen bist du gestorben. Liyun, es gibt keine Flucht mehr. Sie sollen dir kein Leid antun, sie sollen dich nicht für mich töten. Nur deshalb werde ich ein Hong werden – weil ich dich liebe.
»Ich befehle nichts«, hörte er Min Jus Stimme und hatte das Bedürfnis, den Apparat an der Wand zu zerschmettern. »Du brauchst nicht zu kommen. Niemand zwingt dich dazu.«
»Und wenn ich die 36 Blut-Eide nicht schwöre?«
»Dann wirst du kein Bruder werden.« Mins Stimme klang eigenartig traurig. Sie erinnerte Rathenow an den gleichbleibenden Singsang bei der Beerdigung eines Yanomami-Häuptlings im Urwald von Roraima im Norden Brasiliens. »Ein Fax wird nach Hongkong fliegen zum Gao Lao und seinem Großen Rat, und der Gao
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