Der Schwarze Mandarin
Lao wird mit Kunming sprechen und auch Liyun die Ohren putzen …« Min hatte tief Luft geholt. »Auch ich werde darunter zu leiden haben. Der Gao Lao wird behaupten, daß das Experiment durch mich gescheitert ist. Auch wenn er unrecht hat – man darf ihm nicht widersprechen.«
»Das heißt: Liyun und ich werden sterben.«
»Du weißt schon zuviel, Bai Juan Fa.«
»Und das nennen Sie: Keiner zwingt dich dazu?«
»Ja, denn es ist deine Entscheidung.« Min Ju hatte einen Augenblick geschwiegen, dann sagte er: »Leben ist der schönste winzige Teil des Ewigen. Denk an die Worte des Dichters Wang We aus der Blütezeit der Tang-Dynastie:
Ich stieg vom Pferd und reichte dir den Wein
und fragte dich, warum du gingest.
Du sagst: Ich hatte in der Welt kein Glück,
will in des Nan-schan fernen Klüften ruhn.
So geh, mein Freund! Ich frage dich nicht mehr;
dort wandern Wolken weiß und haben kein Ende.
Das hat man im Jahre 749 geschrieben – und es gilt noch heute! Bai Juan Fa, sei ein weiser Mensch! Das kurze Leben soll man nicht in einen Trog werfen.«
Rathenow hatte lange geschwiegen und Wang Wes Worte überdacht. Und dann hatte er gesagt:
»Ich komme, Min Ju. Um welche Zeit?«
»Sei um 23 Uhr hier, neuer Bruder.«
Nun war der Abend gekommen. Rathenow betrachtete sich im Spiegel, ehe er zu seinem Wagen ging. Ein fremdes Gesicht, ein unbekannter Mann sah ihn an. Blonde Haare, eine Brille, ein gut sitzender schwarzer Anzug, auf Figur gearbeitet von einem der besten Schneider Münchens.
»Adieu, Hans Rathenow«, sagte er zu dem fremden Mann im Spiegel. »Und willkommen, Hong Bai Juan Fa. Du Grassandale. Du Sklave der Triaden. Ich hasse dich, aber du rettest Liyuns Leben.«
Im ›Schwarzen Mandarin‹ empfing ihn der Kellner mit größter Aufmerksamkeit und höflicher Verbeugung. »Du hast noch eine halbe Stunde Zeit«, sagte er leise zu Rathenow. »Du kannst vorher noch eine Kleinigkeit essen.«
»Danke. Aber ich kriege jetzt keinen Bissen hinunter.«
»Du mußt etwas essen.« Der Kellner begleitete ihn zu einem Tisch in einer Nische, wie immer. »Dort hinten sitzen zwei Kriminalbeamte und beobachten jeden. Du machst dich verdächtig, wenn du nichts bestellst. Nimm eine Suppe mit Hühnerfleisch und Glasnudeln. Die kann man essen, auch wenn einem die Kehle eng geworden ist. Und dazu ein Bier, ein Pils.«
Es waren schätzungsweise noch vierzig Gäste im Lokal, alles Deutsche mit Ausnahme von zwei Asiaten, die aber offenbar aus Süd-Korea kamen. Rathenow nickte und blickte verstohlen zu den beiden Kripobeamten hinüber. Sie saßen da wie die anderen Gäste, hatten schon gegessen und tranken jetzt den heißen Pflaumenwein, den Zou Shukong als Dank jedem Gast servieren ließ. Sie hatten auch schon bezahlt, eines der billigen Gerichte – die Spesenabteilung des Polizeipräsidiums ersetzte keine Luxusspeisen. Sie hatten nur einen kurzen Blick auf Rathenow geworfen und unterhielten sich dann weiter.
Keine weißen Haare, kein Hinken … uninteressant.
Jetzt wäre es so einfach, spielten Rathenows Gedanken. Hingehen, sagen, wer du bist, und dann verraten: Unter der Erde liegt ein chinesischer Tempel. Dort warten jetzt alle Offiziere der Triaden 14K auf das neue Familienmitglied. Hinter dem Tempel liegen ein Büro und ein großer Versammlungsraum: Männer, ihr sitzt hier auf der Zentrale der Münchner Triaden! Ihr Chef ist Min Ju. Ruft heimlich Verstärkung und umstellt das Lokal. Mit einem Schlag habt ihr 14K von München ausgelöscht. Es wird der größte Triumph in der Kriminalgeschichte sein: die Vernichtung einer ›Drachenstadt‹. Und ich werde euch den größten Satan zeigen, den 14K hervorgebracht hat: Aisin Ninglin, den Drachen ohne Herz. Das Monster, das Menschen zerstückelt und bei lebendigem Leib Glied um Glied zerhackt. München wird frei von Triaden sein – bis ein anderer Min Ju kommt und eine neue ›Drachenstadt‹ gründet.
So einfach wäre das jetzt. So verrückt einfach.
Aber – ich werde schweigen. Soll ich Liyun opfern? Eine Liebe, die nie wiederkommen wird? Den Vater Wang Biao, die Mutter Jiang Sha, die Schwester Min und den Bruder Chuan. Und nicht nur Liyun wird sterben. Die Rache der Triaden wird die ganze Familie Liyuns treffen. Verdammt mich in alle Ewigkeit, aber das kann ich nicht! Es wird einen anderen Weg geben; ich werde ihn suchen und finden. Das verspreche ich euch. Ich werde gleich ein neuer Hong, aber sie haben sich damit eine Giftschlange in ihr Haus geholt. Wartet noch ab
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