Der Schwarze Mandarin
…
Rathenow blieb sitzen, löffelte seine Hühnersuppe, trank das Pils und war gespannt darauf, was weiter geschah. Würde Min Ju sich blicken lassen? Wie konnte er ohne Aufsehen hinunter in den Keller kommen? Zur Toilette gehen, ja – aber dann mußte er nach einer gewissen Zeit wieder ins Lokal zurückkommen, um nicht aufzufallen.
Das Problem löste sich von selbst. Da kein Verdächtiger im Lokal saß, erhoben sich die beiden Kripobeamten und verließen den ›Schwarzen Mandarin‹. Rathenow blickte ihnen nach und trank sein Bier aus. Ihr Ahnungslosen! Unter euren Ärschen hat das Syndikat gelegen, die am meisten gesuchte Verbrecherorganisation in Bayern. So nahe liegen Sieg und Niederlage beieinander.
Der Kellner kam an seinen Tisch. »Du kannst hinunter.« Er klopfte Rathenow auf die Schulter. »Willkommen bei uns, Bruder. Ich freue mich wirklich. Mögest du lange leben.«
Min Ju empfing ihn. Er nahm Rathenow bei der Hand.
Im Tempel brannten alle Kerzen und Öllampen, und ihr flackernder Schein überzuckte die große goldene Buddhafigur und ließ sie wie lebendig wirken. Rechts und links von ihr standen in zwei Reihen die Offiziere der Triaden Schulter an Schulter und sahen Rathenow stumm an, als Min Ju ihn in das Heiligtum geleitete. Räucherstäbchen füllten den großen Raum mit einem herb-süßlichen Duft, und der zarte Rauch wehte in weißen Fäden zur kunstvoll geschnitzten Holzdecke mit ihren Tafeln, auf die Drachen und Phönixe, Lotosblüten und goldene Schriftzeichen gemalt waren. Ein langer, blutroter Teppich führte von der Eingangstür bis zum Altar, auf dem in goldenen Schalen Obst und Blüten lagen und kleine bunte Zettel, beschrieben mit den Wünschen, um deren Erfüllung man den Gott bat. An den Wänden, mit gelber Seide bespannt, bewegten sich im schwachen Wind der unter Schnitzereien verborgenen Klimaanlage lange weiße Bänder an Bambusstangen, bemalt mit Sprüchen und Weisheiten der alten Dichter und Weisen: Li Tai-pe, Schi-Djing, Laotse, Konfutse, Han Yü, Tang Yin und Wang An-Schi.
Irgendwo begannen ein Saiteninstrument und zwei Flöten zu spielen. Eine Weise mit auf- und abschwellenden Tönen, wie sie die Hirten an der Seidenstraße seit Jahrtausenden bliesen. Eine Melodie, die trotz oder wegen ihrer schwebenden Eintönigkeit ins Innere drang. Rathenow blieb nach drei Schritten stehen und sah den wie lebendig wirkenden goldenen Buddha an und dann die Offiziere der Triaden, alle in schwarzen Anzügen und mit ernsten und gespannten Mienen. Sie blickten ihn an wie Puppen, regungslos, ausdruckslos, geradezu leblos.
Min Ju, der Rathenows Hand hielt, drückte sie.
»Weiter!« flüsterte er, »weiter. Knie vor dem Gott nieder.«
»Ich knie nur vor meinem Gott!« flüsterte Rathenow zurück. »Und auch das seit zwanzig Jahren nicht mehr.«
»Hör zu – dir zu Ehren wird ein Lied gesungen! In deiner Muttersprache. Liu Tschang-Tjing hat es geschrieben, im Jahre 801 … hör zu!«
Durch die Weite des Tempels erklang eine helle Stimme. Woher sie kam, konnte Rathenow nicht sehen. Es war, als dränge sie aus den vorgestreckten Händen des Buddhas. Eine Stimme, hell wie die eines Mädchens, klar und rein, und doch war es ein Mann, der sang:
Im sanften Rauschen deiner sieben Saiten
hör ich den Wind im Frost durch Föhren gehn.
Ich hab' es gern, das Lied aus fernen Zeiten,
das Menschen unsrer Tage kaum verstehn …
Min Ju drückte wieder Rathenows Hand. »Verstehst du, was der Weise damit meint?«
»Ich glaube. Es ist ein Gesang auf die Unsterblichkeit. Ein Lied, das nie verweht: Der Wind rauscht durch die Wälder.«
Flöten und Saiteninstrumente verstummten plötzlich. Min Ju und Rathenow gingen weiter langsam durch die Reihe der schwarzgekleideten Triaden bis vor den Altar mit den Opfergaben und den aus hauchdünnem Porzellan gefertigten Kerzenständern und Rauchstäbchenhaltern. Mit weit in den Nacken gelegtem Kopf starrte Rathenow in das gütig lächelnde Gesicht und auf die in seliger Verzückung geschlossenen Augen des goldenen Buddhas. Die innere Gegenwehr, die bisher in ihm war, der Wille, sich nicht von der Mystik einfangen zu lassen, alle spöttischen Gedanken: Welch ein billiges Theater, ein Theater, das man für dich inszeniert hat, um dich mit östlichem Seelenschleim einzulullen … sein ganzer Widerstand brach vor diesem göttlichen goldenen Gesicht. Er kniete nicht nieder, aber er faltete die Hände vor seiner Brust und konnte sich von dem Lächeln um Buddhas Mund nicht
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