Der Schwarze Mandarin
von Jahren. Warum soll ein Pankreas-Ca nicht auch einmal kapitulieren?«
»Weil es kein Mittel dagegen gibt!«
»Lieber Kollege – nur ein Beispiel: Nach über 300.000 chemischen Versuchen und Analysen ist es bis heute nicht gelungen, den ordinären Malaria-Erreger zu vernichten. Es gibt genug Mittel gegen die Malaria, aber was geschieht? Nach einer bestimmten Zeit werden die Erreger resistent. Warum liest niemand nach, was der Arzt Ge Hong im Jahre 340 in seinem ›Handbuch der Rezepte für Notbehandlung‹ bereits entdeckt hat: Das Kraut Qinghaosu, lateinisch Artemisia apiacca, heilt die Zerebral-Malaria! Was geben Sie gegen ein beginnendes Nierenversagen, Herr Kollege?«
»Da haben wir eine Menge Medikamente!« antwortete Freiburg verschlossen.
»Das stimmt: eine Menge chemischer Keulen! Bei der Diagnose einer beginnenden Niereninsuffizienz gebe ich das Medikament Wenpi Tang – ein Destillat aus Ingwer, Rhabarber, Lakritze und Ginseng. Sie sehen mich etwas spöttisch an? Lieber Kollege: Wenpi Tang hilft! Und wehe, ein Patient kommt zu Ihnen mit Rheuma oder Gicht. Sie pumpen ihn voll mit Chemie. Wir verabreichen diesen Kranken ›Hugu Jiu‹, einen sehr scharfen Schnaps aus Tigerknochen.«
Dr. Freiburg verzog das Gesicht. Das ist ja nicht zum Aushalten! Mit Lakritze eine Niereninsuffizienz behandeln, Rheuma und Gicht mit Tigerknochen – da ist jedes Wort zuviel! Und Hans, dieser Idiot, dieser Chinaverdorbene, glaubt daran!
Freiburg war nahe daran, Prof. Sun die Herausgabe der Röntgenbilder zu verweigern. Man sollte diesen Dekan aus Wuhan anzeigen – wegen fahrlässiger Tötung eines Krebskranken. Es ist empörend, was heute alles praktizieren darf. Es ist lebensgefährlich!
»Und das Pankreas-Ca heilen Sie vielleicht mit Schlangengift?« sagte er ironisch, aber man hörte seine Empörung aus den Worten heraus.
»Ich muß das erforschen«, wiederholte Prof. Sun.
»Dazu bleibt keine Zeit mehr. Nicht bei Herrn Min Ju.«
»Es gibt Zufälle, Glücksfälle. Wer hätte gedacht, daß Tabletten aus gemahlenem Antilopenhorn gegen Erkältungen helfen? Antilopenhorn erzeugt die Innere Hitze – und die Innere Hitze ist eine der Grundtherapien der chinesischen Naturmedizin. Die Hitze vertreibt die Erkältung. So einfach ist das, Herr Kollege.«
»Sie werden mich nicht überzeugen können, daß ein inoperables Carzinom mit Säftchen oder ausgekochter Schlangenhaut zu heilen ist. Ich bin kein Chinese, sondern ein Vertreter der Schulmedizin. Und man kann mich auch nicht davon überzeugen, daß die traditionelle chinesische Medizin wissenschaftlich fundiert ist. Ich halte nichts davon.«
»Das ist bedauerlich, Herr Kollege.« Prof. Sun Quanfu erhob sich aus dem Ledersessel. Er zeigte keine Anzeichen von Beleidigung, so beleidigend Dr. Freiburgs Worte auch gewesen waren. »Darf ich um die Röntgenbilder von Herrn Min Ju bitten?«
Wenig später verließ Sun die Praxis von Dr. Freiburg, die großen Kuverts mit den Röntgenaufnahmen unter den Arm geklemmt. Freiburg schaute ihm vom Fenster aus nach, wie er federnden Schrittes auf die Straße trat und dort in einen schwarzen Mercedes stieg.
Du weißt schon, warum du aus China geflüchtet bist, dachte Freiburg wütend. Als Genosse in Wuhan hast du dir keinen Mercedes leisten können. Aber hier schaufelst du goldene Berge zusammen, indem du den gutgläubigen Patienten Potenz durch getrocknete Tigerpenisse versprichst!
Mit Kräutern ein Ca behandeln – das ist geradezu strafbar!
Und Freiburg beschloß, über Rathenow das Schicksal des armen Min Ju weiter zu verfolgen.
*
Von Liyun kam keine Nachricht.
Kein Fax, kein Brief, kein Telefonanruf.
Schweigen.
Rathenow wehrte sich gegen den Gedanken, daß Liyuns Fax nur ein Ausweichen gewesen war, trotz aller Zusagen, nach München zu kommen. Ich warte … warte … hatte sie geschrieben. Und dieses Warten konnte heißen: Laß die Zeit vergehen. Die Zeit wird alles regeln. Die Zeit deckt alles zu. Sie weiß, daß ich angerufen habe. Aber auch wenn sie nicht kommen wollte – ihr Schicksal blieb weiterhin mit Rathenow verbunden. Ihr durfte nichts geschehen. Die Triaden durften ihr kein Leid antun. Er liebte Liyun, auch wenn er inzwischen davon überzeugt war, daß sie seine Liebe nicht in dem Maße erwiderte. Sie hat von der deutschen Botschaft in Beijing auch bestimmt ein Schreiben bekommen, sich zu der Einladung nach Deutschland zu äußern und den Fragebogen auszufüllen – und sie hat nicht reagiert. Ist das nicht
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