Der Schwarze Mandarin
verschwindet. Dann fotografierst du ihn, wenn er wieder herauskommt. Ich gebe dir eine besonders kleine Kamera.«
»Eine Minox.«
»Besser als sie. Unser Geheimdienst benutzt sie. Ein Staatsgeheimnis! Aber wir haben sie …«
»Ich weiß. Ihr habt überall Helfer.«
»Bis in die Regierungen der Länder hinein, in denen wir arbeiten. Wir sind wie Pilze und wuchern überall. Und wenn man einen Pilz abschneidet, wächst er unterirdisch weiter.« Min Ju zog eine Schublade auf und legte Rathenow ein schmales, schwarzes Etui vor. »Hier ist die Kamera. Sie ist leicht zu bedienen. Siehst du … keinen Menschen brauchst du zu töten … so gut sind deine Brüder zu dir.«
»Die Männer, die ich fotografiere, werden getötet werden.«
»Nicht durch deine Hand.«
»Ich töte sie indirekt, indem ich dir ihre Gesichter bringe.«
»Am Ende des Großen Krieges warst du zwölf Jahre. Du hast erlebt und begriffen, daß Krieg Tod bedeutet, daß man sich gegenseitig umbringen muß, damit es einen Sieger gibt, der dann in der Welt bestimmt. Der Stärkere ist der Auserwählte. Der Überlebende regiert.« Min Ju nahm die Zeitung vom Boden, faltete sie auf und klopfte mit der Faust auf die Schlagzeilen. »Wir stehen jetzt in einem Krieg gegen die Mafia der Russen und müssen ihn gewinnen. Mit welchen Mitteln – danach sollte man nicht fragen. War es nicht immer so, daß ein Krieg das Unmenschliche mit sich bringt? Im Ersten Weltkrieg war es das Gas, das lautlos tötete – es wurde nachher geächtet –, im Zweiten Weltkrieg war es die Atombombe … sie ist nicht geächtet worden. Im Gegenteil! Alle Staaten jagen nach der Atombombe, und keiner weiß, wie viele Atomwaffen einzelne Staaten schon besitzen. China besitzt die Atombombe, das weiß jeder. Sie liegt nicht zum Angriff in den unterirdischen Bunkern, sondern zur Verteidigung. Auch wir Triaden müssen uns verteidigen gegen die russischen Angreifer. Will man uns das übelnehmen?«
»Du kannst doch einen normalen Krieg nicht mit einem Bandenkrieg vergleichen!«
»Was ist ein normaler Krieg? Krieg, um Wirtschaftsmacht zu gewinnen? Krieg um das Erdöl, das Blut der Geldmaschinen? Krieg aus Nationalstolz? Wir kämpfen auch um eine Vormachtstellung in der Wirtschaft, wir verteidigen unser Gelände, so wie es jeder Staat tun wird, dessen Grenze überschritten wird.«
»Ihr seid kein Staat.«
»Wir sind ein Staat!« rief Min Ju und sprang auf. »Nicht eine einzelne Nation … wir sind der Staat über den Staaten! Das gilt es zu verteidigen, mit allen Mitteln, die uns den Sieg bringen. Und du bist nur ein kleines, ganz kleines Rädchen in dem Getriebe, das die große Maschinerie des Krieges in Bewegung hält.«
»Indem ich euch die Opfer zutreibe. Wie auf einer Treibjagd: Ich hetze das Wild vor mir her … und ihr sitzt auf dem Hochstand und braucht es nur abzuknallen.«
»Mein Bruder Hong Bai Juan Fa – in deinen Büchern bist du ein so kluger Mensch, aber im täglichen Leben ein Blinder. Du hast nie gekämpft, alles ist dir zugefallen, das Glück hat dich verwöhnt, du hast hinter hohen Mauern in einem Palast gewohnt und nicht Elendshütten um dich herum gesehen. Jetzt erst lernst du, daß Leben nur Kampf ist. Kampf bis aufs Blut um die vorderen Sitzplätze im Zirkus des Lebens. Kampf um ein Stück Brot oder einen Fetzen Fleisch. Kampf um deine Sicherheit und Kampf um die persönliche Macht. Du oder ich … das ist der einzige Spruch, der zählt. Alle anderen Sprüche sind philosophische Faseleien. Wie heißt die alte 28. Strategie? ›Den Gegner auf das Dach locken und dann die Leiter wegziehen‹. Nur so bist du stärker.«
»Ich habe mich in den letzten Tagen mit euren 36 Strategien beschäftigt.« Rathenow hatte alle Angst verloren. Er konnte sich diesen inneren Wandel selbst nicht erklären. »Das Vernünftigste ist die 36. Strategie: ›Weglaufen – das ist die beste der 36 Strategien‹.«
»Ein Triade läuft nie vor seinem Gegner weg! Auch du nicht, Bruder. Du willst doch leben und deine Liyun lieben. Dieses Glück mußt du dir erobern. Du bist ein Hong! Du mußt kämpfen. Nichts kommt von selbst, nur das Sterben. Das Leben ist nur eine Leihgabe. Hör zu, was der Dichter Yüan-Ming schon vor 1.500 Jahren vor dem Kaiser der Djin-Dynastie sang:
Wo immer Leben,
da ist auch der Tod.
Wo früh das Ende,
da ist es bestimmt.
Gestern am Abend
ein Mensch unter uns;
heut in der Frühe
Geist unter Geistern.
Der Hauch der Seele
entflogen wohin?
Erstarrt der Körper
im
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