Der Schwarze Mandarin
erklären.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Die ›Bai-Tee-Zeremonie‹, das heißt, es werden drei verschiedene Sorten Tee in drei Tassen serviert. Der bittere Tee, der süße Tee und der saure Tee. Und jeder Tee hat seine Bedeutung. Der bittere Tee verkörpert das junge Leben. Um es zu genießen, muß man hart arbeiten; es sind bittere Jahre, die einem bevorstehen, bis man sein Leben geordnet hat. Der süße Tee steht für den Lebenssommer. Der Mensch beginnt, die Früchte seiner Arbeit zu ernten, sein Leben ist schön und erfolgreich, er kann stolz auf sich und seine Familie sein. Das Leben schmeckt süß auf seiner Zunge, er schmeckt die Gnade des Himmels. Der saure Tee verkörpert das Alter. Nun hält der Mensch Rückschau auf sein Leben, erkennt Fehler und Irrtümer und muß sich selbst verzeihen. Sauer ist das Symbol des Alters. Nichts gibt es, was man rückgängig machen könnte. Es bleibt die Erkenntnis: So hast du gelebt. Nun bleibt dir nur noch die innere Ruhe, auf die Ewigkeit zu warten.« Liyun holte tief Luft. »Das ist die ›Bai-Tee-Zeremonie‹. Vor Ihnen steht jetzt der bittere Tee der Jugend.«
»Darüber bin ich Gott sei Dank hinaus.« Rathenow setzte die hauchdünne, kunstvoll bemalte Porzellanschale an die Lippen. Es war wirklich ein bitterer Tee, der ein wenig nach Geräuchertem schmeckte.
Kaum hatte er die Tasse ausgetrunken, brachte das Bai-Mädchen die zweite Schale. Den süßen Tee. Rathenow probierte ihn – das süßliche, blumige Aroma überraschte ihn. Es war ein Tee voller Lebensfülle und Reife.
»Und jetzt der saure Tee!« sagte er und stellte die Schale leer zurück auf den Lacktisch. »Jetzt kommt mein Tee – das Getränk der alten Knacker.«
»Sie sind nicht alt«, sagte Liyun. »Zu Ihnen paßt der süße Tee.«
Kaum hatte sie es ausgesprochen, bereute sie diesen Satz schon wieder. Er gab einen Teil ihrer ganz persönlichen Gedanken preis.
Das Bai-Mädchen brachte die dritte Tasse. Den sauren Tee. Rathenow schnupperte daran, aber er roch nichts. Doch schon der erste kleine, vorsichtige Schluck überzeugte ihn: Der Tee schmeckte wirklich säuerlich. Es schien, als habe man vor dem Aufguß zwei Tropfen Essigessenz in das heiße Wasser geträufelt und dann die Teeblätter übergossen. In Wahrheit war es eine Mischung aus verschiedenen Teesorten und getrockneten sauren Kräutern.
»Das ist er!« sagte Rathenow und setzte die Tasse ab. »Der saure Tee. Er gehört zu mir. Die erste Tasse war mir zu bitter und weckte nur Erinnerungen an eine schwere Jugend, die zweite Tasse war mir zu süß, zu zufrieden, zu glatt, zu üppig, aber der saure Tee sagt: Sieh, das war dein Leben: Arbeit, Mühe, Erfolg, Liebe, Lüge und Stolz, Frohsinn und Traurigkeit, Sehnsucht und Erfüllung. Nun bist du alt und etwas weise geworden und weißt, was Leben bedeutet. Blick in die Vergangenheit, erkenne die Gegenwart und hoffe auf die Zukunft! Genieße die Früchte aller Mühen, und gib deine Weisheit an die Jungen weiter!« Rathenow blickte Liyun an. Er sah, daß sie ihm atemlos zuhörte. »Ich stehe an der Schwelle des Alters, deshalb ist der saure Tee mein Tee.«
»Warum wollen Sie alt sein?« fragte Liyun nach einer Weile des Schweigens.
»Ich will nicht, aber ich kann die Zeit nicht anhalten. Man muß sich damit abfinden, alt zu werden. Die wenigsten Menschen können das, sie haben Angst vor dem Alter.«
»Sie nicht?«
»Nein. Man muß das Unvermeidliche gelassen und mit Würde hinnehmen und zufrieden sein mit dem, was man im Leben erreicht hat.«
»Und Sie haben keine Wünsche mehr?«
»Wünsche? Oh, einen ganzen Sack voll! Ein Mensch, der keinen Wunsch mehr hat, ist seelisch bereits tot. Wünsche sind der Motor des Lebens, auch wenn man im Alter weiß, daß nur ein Bruchteil davon erfüllt werden kann. Man muß auswählen, sortieren, überlegen, was noch möglich ist, und ohne Klage verzichten können. Das ist die Weisheit des Alters. Man muß erkennen, daß man an eine Grenze gekommen ist, die man nicht überschreiten kann.«
»Sie sprechen wie ein hundertjähriger Greis. Warum denken Sie jetzt schon an den Tod?«
»Das fragen Sie mich? Ist es nicht gerade in Yunnan Sitte, daß man sich mit 60 Jahren einen Sarg kauft und ihn auf einen Ehrenplatz im Zimmer stellt? Die immerwährende Mahnung: Denk an dein Ende. Bereite dich vor für die letzte Reise.«
»Das gibt es nur noch auf dem Land. Eine Tradition, die ausstirbt. Die heutige Jugend ist anders.«
»Sie sagen es, Liyun – die Jugend. Ich
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