Der Schwarze Mandarin
Aluminiumkoffer mit einigen Beulen.
Rathenow stellte sich in die Schlange der Reisenden und ließ sich langsam nach vorn schieben …
*
Gegen halb sieben verließ Liyun ihre kleine Wohnung, die sie mit einer Kollegin teilte, und trat auf die Straße. Das bestellte Taxi wartete bereits. Der Fahrer grinste sie freundlich an.
»Du kommst vom CITS?« fragte sie und zog die Tür auf.
»Ja, Genossin. Fahrt zum ›Goldenen Drachen‹ und dann zum Ji Chang.«
Liyun nickte, stieg ein und legte ihre Hände in den Schoß. Die letzte Fahrt zu ihm … das letztemal, daß ich ihn sehe. Ein Händedruck, und weg ist er. Warum kann ich ihn nicht umarmen und küssen? Warum diese Fessel der Erziehung? Ich bin doch ein erwachsener Mensch und lebe nicht mehr in einer kaiserlichen Dynastie! Bricht denn die Moral zusammen, wenn ich ihn zum Abschied küsse?
Sie achtete zunächst nicht darauf, wohin das Taxi fuhr, aber als sie nach zehn Minuten das Hotel noch nicht erreicht hatten, blickte sie aus dem Fenster. Sie beugte sich vor und tippte dem Fahrer auf die Schulter. Sie mußte den kleinen Finger nehmen, denn zwischen Fahrgastraum und Fahrer war ein kleinmaschiges Gitter installiert, wie bei chinesischen Taxis üblich.
»Hier geht es doch nicht zum ›Goldenen Drachen‹«, rief sie.
Keine Antwort.
»Wo fährst du denn hin, du Schwachkopf? Das ist doch die Straße nach Xingyi!«
Schweigen, nur der Motor heulte auf, und der Wagen fuhr schneller.
»Anhalten!« schrie Liyun und trommelte mit den Fäusten gegen das Gitter. »Halt sofort an! Kennst du denn den Weg nicht? Wo kommst du denn her?«
Keine Antwort.
Liyun blickte verzweifelt auf ihre Uhr. Er bekommt das Flugzeug nicht. Das nächste fliegt erst am Nachmittag – da ist die Anschlußmaschine nach Frankfurt in Hongkong weg.
»Du sollst umkehren!« schrie sie und hieb wieder gegen das Gitter. »Ich springe aus dem Wagen, wenn du nicht anhältst.«
Aber das war gar nicht möglich. Als sie an der Klinke rüttelte, merkte sie, daß die Tür verriegelt war. Panische Angst überfiel sie. Woher kommt das Taxi? Was hat der Fahrer vor? Wohin rast er? Sie wollte die Scheibe hinunterkurbeln, aber auch sie ließ sich nicht bewegen. Sie konnte nicht einmal um Hilfe schreien. Außerdem war die Straße nach Xingyi um diese frühe Zeit nur wenig befahren, nur ein paar Lastwagen kamen ihnen entgegen, an denen der Fahrer vorbeirauschte.
Liyun tobte und kreischte, hieb gegen das Gitter, die Scheiben, den Sitz, bot 100 Yuan, wenn der Fahrer umkehrte, aber der stumme Chinese hatte nur Augen für die Straße und blieb ohne Regung.
Nach einer Stunde Fahrt hielt er plötzlich auf freiem Feld an, stieg aus, öffnete die Tür und riß Liyun aus dem Wagen. Ein Stoß warf sie in einen Busch am Straßenrand.
»Das war alles«, sagte der Fahrer. »Ich wünsche dir einen guten Tag.«
Er wendete das Taxi und fuhr zurück nach Kunming.
Der zweite Lastwagen, der nach zehn Minuten auf Liyun zufuhr, bremste auf ihr wildes Winken hin. Sie rannte auf ihn zu, der Fahrer beugte sich aus dem Fenster.
»Ich muß zum Flughafen!« rief sie. »Fahr mich hin, bitte, fahr mich hin. Du bekommst 200 Yuan! Bitte …«
»Steig ein.« Der Fahrer half ihr in die Kabine und gab Gas. »Wo ist das Geld?«
»Hier!« Sie warf ihm die zerknüllten Scheine zu. »Kannst du nicht schneller fahren?«
»Wenn du den ganzen Wagen bezahlst – er wird auseinanderbrechen.«
Er brach nicht auseinander. Aber als sie den Flughafen erreichten, sah Liyun gerade noch, wie sich die Maschine der Dragon Air nach Hongkong steil in den Himmel hob. Sie blieb auf dem Vorplatz des Flughafens stehen, starrte ihr nach und merkte nicht, daß der Lastwagen weiterfuhr. Tränen rannen über ihr Gesicht, und sie hob beide Hände und winkte dem Flieger nach, und ihre Lippen formten lautlos Worte, die niemand hören konnte.
Leb wohl … denk an mich … auf Wiedersehen … ich liebe dich, ich liebe dich … komm zurück … ich komme zu dir … ein neues Leben wird beginnen … vergiß mich nicht … ich trage dich auf meiner Seele … Gott schütze dich …
Sie drehte sich weg, als das Flugzeug im Blau des Himmels verschwand, ging zu dem nächsten Polizisten, der vor dem Portal stand, und strich sich die verschwitzten Haare aus der Stirn. In ihren Augenwinkeln glitzerten noch Tränen.
»Helfen Sie mir, Genosse Polizist – ich bin entführt worden.«
Der Polizist sah Liyun ärgerlich an. »Entführt? Bist du betrunken? Du stehst doch vor
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