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Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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einfaches Leben, ohne Probleme, mit einem braven Beruf, einer braven Frau, braven Kindern, einem braven Abdienen der Existenz und einem braven Tod – alles als selbstverständlich hingenommen, Tag, Feierabend und Nacht, ohne Frage, was dahinter sei. Eine scharfe Sehnsucht danach packt mich einen Augenblick, und etwas wie Neid. Dann sehe ich Isabelle. Sie steht am Tor, die Hände um die eisernen Stäbe des Gitters gelegt, den Kopf daran gepreßt, und blickt hinaus. Sie steht lange so. Das Licht wird immer voller und röter und goldener, die Wälder verlieren die blauen Schatten und werden schwarz, und der Himmel über uns ist apfelgrün und voll von rosa angestrahlten Segelbooten.
      Endlich dreht sie sich um. Ihre Augen sehen in diesem Licht fast violett aus.
      «Komm», sagt sie und nimmt meinen Arm.
      Wir gehen zurück. Sie lehnt sich an mich. «Du mußt mich nie verlassen.»
      «Ich werde dich nie verlassen.»
      «Nie», sagt sie. «Nie ist so kurz.»

    Der Weihrauch wirbelt aus den silbernen Kesseln der Meßdiener. Bodendiek dreht sich um, die Monstranz in seinen Händen. Die Schwestern knien in ihren schwarzen Trachten wie dunkle Häufchen Ergebung in den Bänken; die Köpfe sind gesenkt, die Hände klopfen an die verdeckten Brüste, die nie Brüste werden durfen, die Kerzen brennen, und Gott ist in einer Hostie, von goldenen Strahlen umgeben, im Raum. Eine Frau steht auf, geht durch den Mittelgang nach vorn bis zur Kommunionbank und wirf sich dort auf den Boden. Die meisten Kranken starren regungslos auf das goldene Wunder. Isabelle ist nicht da. Sie hat sich geweigert, in die Kirche zu gehen. Früher ist sie gegangen; jetzt, seit einigen Tagen will sie nicht mehr. Sie hat es mir erklärt. Sie sagt, sie wolle den Blutigen nicht mehr sehen.
      Zwei Schwestern heben die Kranke auf, die sich hingeworfen hat und mit den Händen den Boden schlägt. Ich spiele das Tantum ergo. Die weißen Gesichter der Irren heben sich mit einem Ruck der Orgel entgegen. Ich ziehe die Gamben und die Violinen. Die Schwestern singen.
      Die weißen Spiralen des Weihrauches wirbeln. Bodendiek stellt die Monstranz zurück in das Tabernakel. Das Licht der Kerzen flackert über den Brokat seines Meßgewandes, auf das ein großes Kreuz gestickt ist, und weht aufwärts mit dem Rauch zu dem großen Kreuz, an dem blutüberströmt seit fast zweitausend Jahren der Heiland hängt. Ich spiele mechanisch weiter und denke an Isabelle und das, was sie gesagt hat, und dann an die Beschreibung der vorchristlichen Religionen, die ich gestern abend gelesen habe. Die Götter waren damals heiter in Griechenland, sie wandelten von Wolke zu Wolke, sie waren leicht schurkisch und immer treulos und wandelbar wie die Menschen, zu denen sie gehörten. Sie waren Verkörperungen und Übertreibungen des Lebens in seiner Fülle und Grausamkeit und Unbedenklichkeit und Schönheit. Isabelle hat recht: Der bleiche Mann über mir mit dem Bart und den blutigen Gliedern ist es nicht. Zweitausend Jahre, denke ich, zweitausend Jahre, und immer ist das Leben mit Lichtern, Brunstschreien, Tod und Verzückung um die Steinbauten gewirbelt, in denen die Abbilder des blassen Sterbenden aufgerichtet waren, düster, blutig, von Millionen von Bodendieks umgeben – und bleifarben ist der Schatten der Kirchen über den Ländern gewachsen und hat die Lebensfreude erdrosselt, er hat aus Eros, dem heiteren, eine heimliche, schmutzige, sündhafe Bettgeschichte gemacht und nichts vergeben, trotz aller Predigten über Liebe und Vergebung – denn wirklich vergeben heißt, den anderen zu bestätigen, wie er ist, nicht aber Buße zu verlangen und Gefolgschaf und Unterwerfung, bevor das Ego te absolvo ausgesprochen wird.

    Isabelle hat draußen gewartet. Wernicke hat ihr erlaubt, daß
    sie abends im Garten sein darf, wenn jemand bei ihr ist. «Was hast du drinnen getan?» fragt sie feindlich. «Mitgeholfen, alles zuzudecken?»
      «Ich habe Musik gemacht.»
      «Musik deckt auch zu. Mehr als Worte.»
      «Es gibt auch Musik, die aufreißt», sage ich. «Musik von Trommeln und Trompeten. Sie hat viel Unglück in die Welt gebracht.»
      Isabelle dreht sich um. «Und dein Herz? Ist es nicht auch eine Trommel?»
      Ja, denke ich, eine langsame und leise, aber es wird trotzdem genug Lärm machen und genug Unglück bringen, und vielleicht werde auch ich darüber den süßen, anonymen Ruf des Lebens überhören, der denen geblieben ist, die kein pomphafes Selbst dem Leben

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