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Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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mehr da, dich hierzuhalten.»
      «Hier oder anderswo – das ist doch alles dasselbe. Warum dann nicht hier? Hier sind sie wenigstens nicht. Sie sind wie die Mükken. Wer will mit Mücken leben?» Sie beugt sich vor. «Deshalb verstelle ich mich», flüstert sie.
      «Du verstellst dich?»
      «Natürlich! Weißt du das nicht? Man muß sich verstellen, sonst schlagen sie einen ans Kreuz. Aber sie sind dumm. Man kann sie täuschen.»
      «Täuschst du auch Wernicke?»
      «Wer ist das?»
      «Der Arzt.»
      «Ach der! Der will mich nur heiraten. Er ist wie die anderen. Es gibt so viele Gefangene, Rudolf, und die draußen haben Angst davor. Aber drüben der am Kreuz – vor dem haben sie die meiste Angst.» – «Wer?»
      «Alle, die ihn benützen und von ihm leben. Es sind unzählige. Sie sagen, sie wären gut. Aber sie richten viel Böses an. Wer einfach böse ist, kann wenig tun. Man sieht es und nimmt sich vor ihm in acht. Aber die Guten – was die alles tun! Ach, sie sind blutig!»
      «Das sind sie», sage ich, selbst merkwürdig erregt durch die flüsternde Stimme im Dunkel. «Sie haben entsetzlich viel angerichtet. Wer selbstgerecht ist, ist unbarmherzig.»
      «Geh nicht mehr hin, Rudolf», flüstert Isabelle weiter. «Sie sollen ihn freilassen! Den am Kreuz. Er möchte auch einmal lachen und
    schlafen und tanzen.»
    «Glaubst du?»
      «Jeder möchte das, Rudolf. Sie sollen ihn freilassen. Aber er ist zu gefährlich für sie. Er ist nicht wie sie. Er ist der Gefährlichste von allen – er ist der Gütigste.»
      «Halten sie ihn deshalb fest?»
      Isabelle nickt. Ihr Atem streif mich. «Sie müßten ihn sonst wieder ans Kreuz schlagen.»
      «Ja», sage ich, «das glaube ich auch. Sie würden ihn wieder töten; dieselben, die ihn heute anbeten. Sie würden ihn töten, so wie man Unzählige in seinem Namen getötet hat. Im Namen der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe.»
      Isabelle fröstelt. «Ich gehe nicht mehr hin», sagt sie und deutet auf die Kapelle. «Sie sagen immer, man müsse leiden. Die schwarzen Schwestern. Warum, Rudolf?»
      Ich antworte nicht.
      «Wer macht, daß wir leiden müssen?» fragt sie und drängt sich gegen mich.
      «Gott», sage ich bitter. «Wenn es ihn gibt. Gott, der uns alle geschaffen hat.»
      «Und wer bestraf Gott dafür?»
      «Was?»
      «Wer bestraf Gott dafür, daß er uns leiden macht? Hier bei den Menschen kommt man ins Gefängnis oder wird aufgehängt, wenn man das tut. Wer hängt Gott auf?»
      «Darüber habe ich noch nicht nachgedacht», sage ich. «Ich werde das einmal den Vikar Bodendiek fragen.»
      Wir gehen durch die Allee zurück. Ein paar Glühwürmchen fliegen durch das Dunkel. Isabelle bleibt plötzlich stehen.
      «Hast du das gehört?» fragt sie.
      «Was?»
      «Die Erde. Sie hat einen Sprung gemacht, wie ein Pferd. Als Kind hatte ich Angst, ich würde herunterfallen, wenn ich schliefe. Ich wollte festgebunden werden in meinem Bett. Kann man der Schwerkraf trauen?»
      «Ja. Ebenso wie dem Tod.»
      «Ich weiß es nicht. Bist du noch nie geflogen?»
      «In einem Flugzeug?»
      «Flugzeug», sagt Isabelle mit leichter Verachtung. «Das kann jeder. Im Traum.»
      «Ja. Aber kann das nicht auch jeder?»
      «Nein.»
      «Ich glaube, jeder Mensch träumt einmal, daß er fliegt. Es ist einer der häufigsten Träume, die es gibt.»
      «Siehst du!» sagt Isabelle. «Und du traust der Schwerkraf. Wenn sie nun eines Tages aufört? Was dann? Dann fliegen wir herum wie Seifenblasen! Wer ist dann Kaiser? Der, der am meisten Blei an die Füße gebunden hat, oder der mit den längsten Armen? Und wie kommt man von einem Baum herunter?»
      «Das weiß ich nicht. Aber selbst Blei hülfe nicht. Es wäre dann auch leicht wie Luf.»
      Sie ist plötzlich ganz spielerisch. Der Mond scheint in ihre Augen, als brenne hinter ihnen ein bleiches Feuer. Sie wirf das Haar zurück, das in dem kalten Licht aussieht, als hätte es keine Farbe.
      «Du siehst aus wie eine Hexe», sage ich. «Eine junge und gefährliche Hexe!»
      Sie lacht. «Eine Hexe», flüstert sie. «Hast du es endlich erkannt? Wie lange das gedauert hat!»
      Mit einem Ruck reißt sie den blauen weiten Rock auf, der um ihre Hüfen schwingt, läßt ihn fallen und steigt heraus. Sie trägt nichts als Schuhe und eine kurze weiße Bluse, die sich öffnet. Schmal und weiß steht sie in der Dunkelheit, mehr Knabe als Frau, mit

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