Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
eine Flasche und zwei Gläser hervor und schenkt ein. «Kognak», sagt er. «Ich möchte nur eins wissen – woher sie spürt, daß ihre Mutter wieder hier ist.»
      «Ihre Mutter ist hier?»
      Wernicke nickt. «Seit vorgestern. Sie hat sie noch nicht gesehen. Auch nicht vom Fenster aus.»
      «Warum sollte sie nicht?»
      «Sie müßte dazu weit aus dem Fenster hängen und Augen wie ein Scherenfernrohr haben.» Wernicke betrachtet die Farbe seines Kognaks. «Aber manchmal spüren Kranke dieser Art so etwas. Vielleicht hat sie es auch erraten. Ich habe sie in die Richtung getrieben.»
      «Wozu?» sage ich. «Sie ist kränker, als ich sie je gesehen habe.»
      «Nein», erwidert Wernicke.
      Ich stelle mein Glas zurück und blicke auf die dicken Bücher seiner Bibliothek. «Sie ist so elend, daß einem der Magen hochkommt.»
      «Elend schon; aber nicht kränker.»
      «Sie hätten sie in Ruhe lassen sollen – so, wie sie im Sommer war. Sie war glücklich. Jetzt – das ist entsetzlich.»
      «Ja, es ist entsetzlich», sagt Wemicke. «Es ist fast so, als ob all das wirklich geschähe, was sie sich einbildet.»
      «Sie sitzt da wie in einer Folterkammer.»
      Wernicke nickt. «Man glaubt draußen immer, so etwas existiere nicht mehr. Es existiert noch. Hier. Jeder hat seine eigene Folterkammer im Schädel.»
      «Nicht nur hier.»
      «Nicht nur hier», gibt Wernicke bereitwillig zu und nimmt einen Schluck Kognak. «Aber viele hier haben sie. Wollen Sie sich überzeugen? Nehmen Sie einen weißen Kittel. Es ist bald Zeit für den Abendrundgang.»
      «Nein», sage ich. «Ich erinnere mich an das letztemal.»
      «Das war der Krieg, der immer noch hier tobt. Wollen Sie eine andere Abteilung sehen?»
      «Nein. Ich erinnere mich auch daran.»
      «Nicht an alle, Sie haben nur einige gesehen.»
      «Es waren genug.»
      Ich erinnere mich an die Geschöpfe, die Wochen hindurch in verkrampfen Haltungen erstarrt in Ecken stehen oder ruhelos gegen die Wände rennen, über die Betten klettern und mit weißen Augen in Zwangsjacken röcheln und schreien. Die lautlosen Gewitter des Chaos prasseln auf sie hernieder, und Wurm, Klaue, Schuppe, die schleimige, fußlose, sich windende Vorexistenz, das Kriechen vor dem Denken, daß Aas-Dasein greifen von unten herauf nach ihren Gedärmen und Hoden und Rückenwirbeln, um sie herabzuziehen in die graue Zersetzung des Anfangs, zurück zu Schuppenleibern und augenlosem Würgen – schreiend wie panikbefallene Affen retten sie sich auf die letzten kahlen Äste ihres Gehirns, schnatternd, gebannt von dem höhersteigenden Geschlinge, in der letzten grauenhafen Furcht, nicht des Gehirns, schlimmer, der der Zellen vor dem Untergang, dem Schrei über allen Schreien, der Angst der Ängste, der Todesfurcht, nicht des Individuums, sondern der Adern, der Zellen, des Blutes, der unterbewußten Intelligenzen, die Leber, Drüsen, Kreislauf schweigend regieren und das Feuer unter dem Schädel.
      «Gut», sagt Wernicke. «Dann trinken Sie Ihren Kognak. Unterlassen Sie Ihre Ausflüge ins Unterbewußtsein und loben Sie
    das Leben.»
      «Warum? Weil alles so wunderbar eingerichtet ist? Weil einer den anderen frißt und dann sich selbst?»
      «Weil Sie leben, Sie harmloser Klabautermann! Für das Problem des Mitleids sind Sie noch viel zu jung und unerfahren. Wenn Sie dazu einmal alt genug sein werden, werden Sie merken, daß es nicht existiert.»
      «Ich habe eine gewisse Erfahrung.»
      Wernicke winkt ab. «Machen Sie sich nicht wichtig, Sie Kriegsteilnehmer! Was Sie wissen, gehört nicht in das metaphysische Problem des Mitleids – es gehört in die allgemeine Idiotie der menschlichen Rasse. Das große Mitleid beginnt anderswo – und es hört auch anderswo auf – jenseits der Klageböcke wie Sie und auch jenseits der Trosthändler wie Bodendiek –»
      «Gut, Sie Übermensch», sage ich. «Gibt Ihnen das aber ein Recht, in den Köpfen Ihres Bezirkes nach Belieben die Hölle, das Fegefeuer oder den phlegmatischen Tod aufzurühren?»
      «Recht –», erwidert Wernicke mit abgrundtiefer Verachtung. «Wie angenehm ist doch ein ehrlicher Mörder gegen einen Rechts-Anwalt wie Sie! Was wissen Sie von Recht? Noch weniger als von Mitleid, Sie scholastischer Sentimentalist!»
      Er hebt sein Glas, grinst und blickt friedlich in den Abend. Das künstliche Licht im Zimmer wird immer goldener auf den braunen und bunten Rücken der Bücher. Es

Weitere Kostenlose Bücher