Der Schwarze Papst
laufen.
Er wartete am Fuß der Treppe, und es erschien - Tilman Ried. Sandro erinnerte sich nicht, jemals in ein derart blutleeres Gesicht geblickt zu haben.
Ried sah ihn ausdruckslos an. »Er ist tot«, sagte er.
Sandro schluckte. »Wer?«
Ried, zur Säule erstarrt, antwortete nicht.
»Der Pater General?«, fragte Sandro. »Der Ehrwürdige?«
Ried verneinte mit einem schwachen Kopfschütteln. Sandro hatte einen Verdacht: Miguel Rodrigues. »O nein.« Er ging an Tilman Ried vorbei die Treppe hinauf, ohne zu eilen. Einer Leiche rannte man nicht entgegen, dafür gab es wahrlich keinen Grund. Er passierte den ersten Stock, ging weiter. Vor Rodrigues’ Zimmertür im zweiten Stock blieb er stehen, zögernd streckte er seine Hand nach dem Knauf aus.
Ein dritter Mord, dachte Sandro. Eine Katastrophe für jeden
Ermittler. Die brutalste Form des Scheiterns. Was würde er antreffen? Ein von Gift verzerrtes Gesicht? Eine blutverschmierte Brust? Schließlich fasste er sich ein Herz und öffnete die Tür.
Leer. Kein Rodrigues.
Sandro verließ den Raum wieder und ging die Treppe hinunter. Im ersten Stock fiel ihm eine angelehnte Tür auf, an der er vorhin achtlos vorbeigegangen war.
Er wusste, wer in diesem Zimmer wohnte. Wieder stand er davor, zögerte und war auf alles gefasst.
Nur nicht auf das, was er dann sah.
Sie waren zu siebt. Alle fünf, die in der Kapelle gesungen hatten, hatten sich im Raum versammelt, und vier von ihnen starrten entsetzt auf den Leichnam. Ignatius von Loyola hatte sich im Angesicht des Erhängten dem Kruzifix an der Wand zugewandt, sich niedergekniet und die Augen geschlossen.
Sandro hatte Angelo geweckt, der, notdürftig bekleidet und mit struppigem Haar, auf den Tisch stieg.
»Ich löse den Strick«, sagte Angelo. »Jemand muss die Beine des Toten festhalten. Ein Zweiter hilft, den Leichnam aufzufangen.«
Königsteiner hielt die Beine fest, Birnbaum half ihm. Dann sägte Angelo mit einem Messer an dem Strick. Als er riss, kippte Luis’ Körper nach vorn. Königsteiner und Birnbaum mühten sich, doch schließlich verloren sie das Gleichgewicht. Luis de Sotos toter Körper berührte Ignatius von Loyola und schlug unmittelbar neben ihm auf dem Boden auf. Birnbaum, Königsteiner, Rodrigues, Duré und Angelo schlossen vor Entsetzen die Augen, und in diesem Moment blickte Loyola auf. Sein Blick ruhte lange auf dem verrenkten Leichnam. Seine Philosophie war es immer gewesen, hinzusehen, dem Bösen in die Fratze zu gucken, dem Ekel die Stirn zu bieten. Nichts auf
Erden war so hässlich und gemein und abscheulich, dass man ihm ausweichen durfte. Das war Teil seiner Lehre.
Ignatius schaute hin, dann stand er auf, schickte die Brü - der aus dem Raum und forderte sie auf, in ihre Zimmer zu gehen. Alle sahen elend aus, aber am schlimmsten schien es Miguel Rodrigues getroffen zu haben sowie den jungen Tilman Ried, der, noch immer benommen, sich auf die Treppe gesetzt hatte.
Als alle gegangen waren, sagte Loyola, an Sandro gewandt: »Tu deine Arbeit, Bruder. Gott stehe dir bei.« Dann ging auch er.
Als Sandro die Tür schließen und zusammen mit Angelo die Untersuchung beginnen wollte, kam Gisbert von Donaustauf die Treppe heraufgelaufen, wobei er einige Mitbrüder beinahe umrannte.
»Ich werde heiraten«, rief er überglücklich. »Denkt Euch, ich werde heiraten. Ha, heiraten.« Und dann führte er einen irren Tanz auf.
Über mangelnde Spuren konnten Sandro und Angelo sich nicht beklagen. Im Gegenteil, Luis’ Tod ließ sich nachvollziehen wie eine mathematische Berechnung: ein Deckenbalken, ein Strick, ein umgekippter Stuhl, Würgemale am Hals, keine sonstigen Verletzungen. Es kam noch besser. Auf dem Schreibtisch lag die Bibel, aufgeschlagen auf einer Seite, in der es um Schuld und Reue ging. Ein Absatz war angestrichen, darin ging es um die Schuld und Bestrafung des Volks Juda.
Und damit nicht genug, fand sich neben der Bibel ein Stück Pergament, auf dem geschrieben stand: »Das Gift befand sich im Wasserbecher auf dem Lesepult.«
»Seine Schrift?«, fragte Angelo.
Sandro nickte. Er hatte Jahre als Luis’ Assistent verbracht, sodass er dessen Schrift aus tausend anderen erkannte. Nur ein
meisterhafter Fälscher hätte Sandro täuschen können. Nein, Luis hatte diese Worte geschrieben, davon war auszugehen.
Was Sandro irritierte, war nicht so sehr das Stück Pergament, sondern die Bibel, im Grunde genommen der ganze Selbstmord. Luis, der Eitle, der Geniale, der Egoist, der
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