Der Schwarze Phoenix
sich vorsichtig an den beiden Türstehern vorbei und betraten die große Eingangshalle. Niemand war zu sehen und Carnegie marschierte bereits über den schwarz-weiß gefliesten Boden auf eine große Doppeltür am Ende der Halle zu. Über den Türen stand auf einem Schild »Große Lounge«. Jonathan blickte nachdenklich zu Lucien und Arthur, dann liefen die drei eilig hinter dem Wermenschen her.
In der großen Lounge des Kain-Club herrschte eine steife Höflichkeit, wie Jonathan sie noch nie in Darkside erlebt hatte. Männer in schwarzen Abendanzügen stolzierten durch den weitläufigen Raum oder standen trinkend in kleinen Gruppen zusammen und sprachen miteinander. Ihre Gesichter waren fast vollständig von schwarzen Masken bedeckt, die die schielenden Fratzen von Kobolden und Gnomen darstellten. Schwere Ohrensessel und grüne Zimmerpflanzen wurden von dickem Zigarrenrauch eingehüllt. An den Wänden stellten erlesene Aquarelle anschaulich Szenen der Gewalt dar. Hin und wieder übertönte ein schrilles Lachen oder ein Klirren von Kristallgläsern den Geräuschpegel der allgemeinen Unterhaltungen.
Alle Köpfe drehten sich zu den unmaskierten, schäbig aussehenden Neuankömmlingen, als diese eintraten. Jonathan konnte keine Veränderung der Gesichtszüge unter den Masken sehen, aber er spürte eine plötzlich aufkeimende Feindseligkeit, die die Wärme der Kaminfeuer verdrängte. Neben ihm genoss Carnegie es, die Mitglieder anzustrahlen und ihnen seine scharfen Eckzähne zu zeigen.
Arthur zupfte sich nervös am Kragen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, zischte er.
»Wir haben nicht viel Zeit, bis die Türsteher mit ein paar Freunden zurückkommen«, presste Carnegie zwischen seinen Zähnen hervor. »Wir sollten uns aufteilen und umsehen. Sucht nach irgendetwas, das mit Edwin Rafferty zu tun hat.«
Daraufhin verschwand der Wermensch im Gedränge. Jonathan warf einen Blick auf die Club-Mitglieder und marschierte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Die Eingangshalle war immer noch verlassen. Jonathan wollte möglichst viel Abstand zwischen sich und die sich erholenden Türsteher bringen und rannte deshalb, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Es bedurfte nur weniger Minuten der Erkundung im oberen Stockwerk, bis Jonathan zu dem Schluss kam, dass der Kain-Club ein Labyrinth wie ein Kaninchenbau war. Das obere Stockwerk war verlassen und Jonathan wanderte durch Esszimmer, Arbeitszimmer und Billardzimmer, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Trotzdem brannten in jedem Zimmer Gaslampen, undjeder Esstisch war gedeckt, nur für den Fall, dass ihn eines der Mitglieder zu benutzen wünschte. An allen Wänden hingen gerahmte Fotografien, eine Galerie von reichen, männlichen Darksidern, die lachten, miteinander scherzten und höhnisch grinsten. Aber es gab keinerlei Hinweis auf Edwin Rafferty.
Entnervt ließ sich Jonathan auf einem Sofa in einer prunkvollen Bibliothek nieder, in der morsche Regale mit ledergebundenen Büchern vollgestopft waren. Als er aufblickte, sah er etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Direkt vor ihm hing ein lebensgroßes Portrait von Vendetta. Der Bankier trug einen blutverschmierten weißen Leinenanzug. Ein Junge lag zusammengesunken zu seinen Füßen. Jonathan hatte das Gefühl, als würde sich der Blick des Vampirs direkt in seine Seele brennen. Er hatte gehofft, dieses Gesicht nie wiedersehen zu müssen.
Jonathan stand auf und näherte sich langsam dem Gemälde. Er steckte die Hand aus und berührte es, bereit, seine Hand schnell zurückzuziehen, falls Vendetta ihn beißen sollte. Neben dem Gemälde war eine Plakette angebracht, auf der stand: G. Vendetta, dessen generöse Gaben aus seiner Privatbibliothek diese Regale füllen . Jonathan erschauderte. Er konnte sich unmöglich vorstellen, dass Vendetta etwas Großmütiges oder Freundliches tat.
Er wandte sich von dem Gemälde ab, durchstreifte den Raum und ließ seine Finger über die knorrigen Buchrücken gleiten. Alle Bücher schienen Sachbücher zu sein: historische Studien von Kriegen und Fehden,Handbücher über wirtschaftliche Betrügereien und Biografien berühmter Verbrecher aus Darkside. Portraits exotischer Charaktere wie Charlie Rotblut, Morticia della Rosa und Solomon Razzaq sprangen ihm ins Auge.
Schließlich ruhte Jonathans Finger auf einem dicken gebundenen Buch mit einem nachtblauen Rücken. Er zog es aus dem Regal und las den Titel: Leidvolls Darksides Adligenverzeichnis . Die Seiten
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