Der Schwarze Phoenix
mehr so fürKarten und Globen. Ich muss sehen, wie ich über die Runden komme.«
Carnegie kramte in seinen Taschen und fand schließlich zwei glänzende Münzen. Carmen nahm sie eilig entgegen, und bevor Jonathan einmal geblinzelt hatte, waren sie zwischen den Falten ihres Rocks verschwunden. Sie bedeutete Jonathan, ihr zu folgen, und verschwand durch einen mit Perlenschnüren verhangenen Durchgang. Im dahinter liegenden Flur schob sie mit dem Fuß einen kleinen Teppich beiseite. Im Boden war eine Falltür eingelassen. Unter leichtem Stöhnen hob Carmen die Klappe hoch, trat zur Seite und machte eine ausladende Handbewegung, wie die Assistentin eines Zauberers.
»Ta-daaa«, flötete sie grinsend.
Jonathan spähte nach unten. Er konnte lediglich eine Reihe von Steinstufen erkennen, die in die Dunkelheit führten.
»Das ist alles?«
Carmen entzündete eine Kerze und reichte sie ihm.
»Das ist alles. Du musst nur die Stufen hinabsteigen und dann den Gang entlanglaufen. Mehr musst du nicht tun.«
Sie drehte sich um und marschierte zurück in den Laden. Die Falten ihres Rocks tanzten um ihre Knöchel wie kleine Hundewelpen. Carnegie beobachtete sie mit Bewunderung.
»Tolle Frau, diese Carmen. Obwohl sie skrupelloser ist als die meisten Diebe in dieser Gegend. Zwei Schilling sind reiner Wucher.«
Als der Wermensch ihm zum Abschied die Hand gab, wurde Jonathan plötzlich bewusst, wie sehr er ihn vermissen würde. Sie hatten in den letzten Monaten die meiste Zeit zusammen verbracht. Jonathan wäre mehrmals beinahe getötet worden (mehr als einmal sogar fast durch Carnegies Hände), aber jedes Mal, wenn er morgens aufwachte, fühlte er sich lebendig. Er spürte, wie das Blut in freudiger Erwartung dessen, was als Nächstes passieren würde, durch seine Adern strömte. Der Wermensch hatte ihm nicht nur das Leben gerettet, er hatte ihm auch eine völlig neue und aufregende Welt gezeigt.
Carnegie räusperte sich verlegen und beendete die unangenehme Stille.
»Denk nicht einmal daran, mich zu umarmen, oder du wirst es bereuen, Junge.«
»Das hatte ich auch nicht vor.«
»Gut … also, ähm … bestell deinem Vater schöne Grüße von mir. Und pass auf, dass du am Leben bleibst.«
Carnegie sprach den letzten Satz sehr schnell aus und blickte verschämt zur Seite. Jonathan lächelte.
»Ja. Du auch. Wir sehen uns in ein paar Tagen wieder.«
Er hielt seine Hand schützend vor die Kerzenflamme, stieg vorsichtig die Stufen hinab und verschwand in der Finsternis.
Jonathan hatte sich so sehr an böse Überraschungen gewöhnt, dass er fast ein wenig enttäuscht war, als die Reise sich nun so unkompliziert gestaltete, wie Carmen es vorausgesagt hatte: Die Stufen führten zu einem Gang, der sich ungefähr einhundert Meter lang aufwärts wand und dann abrupt vor einer Tür endete. Trotzdem spürte er, wie sich ihm die Brust zuschnürte und ihm übel wurde, als er sich der Tür näherte. Sein Puls raste und ein stechender Schmerz breitete sich in seinen Schläfen aus. Er wusste, dass das Durchqueren des Übergangs unschöne Nebenwirkungen hatte. Die faulige Atmosphäre von Darkside war für Fremde genauso giftig, wie sie für die Einwohner lebenswichtig war. Als Halbdarksider sollte Jonathan eigentlich besser damit zurechtkommen, aber selbst er hatte Schmerzen. Er dachte an seinen Vater, der vor vielen Jahren zwischen den Welten gewandelt war, und fragte sich, wie sehr es ihn geschmerzt haben musste.
Jonathan sank auf die Knie und konzentrierte sich darauf, langsam und tief zu atmen. Nach einigen Minuten ließen die Schmerzen nach, aber die Übelkeit blieb. Er erhob sich und öffnete langsam die Tür. Sie führte auf eine schmutzige, verlassene Gasse, an deren Rändern leere Holzkisten und überquellende Mülltonnen standen. Als Jonathan die Tür hinter sich zuzog, bemerkte er, dass das eine Ende eine Sackgasse war, während das andere in eine sehr belebte Straße mündete. Menschenmassen strömten vorbei: Es waren Lightsider. Er war zu Hause. Jonathan atmete tief durch undmarschierte durch die Gasse der untergehenden Sonne entgegen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er sich auf der Oxford-Street befand.
Als Jonathan jünger gewesen war, war er unzählige Male diese berühmte Straße entlanggelaufen und hatte sich durch die Menschenmenge gedrängt, die über die Bürgersteige in die großen Kaufhäuser strömte. Was ihm einst so banal und vertraut vorkommen war, erschien ihm nun fremd. Der Gestank nach Abwasser
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