Der Schwarze Phoenix
und Pferdemist, der in Darkside stets in der Luft hing, war fort, und die Luft hier fühlte sich im Vergleich dazu kalt und steril an. Anstatt der Pferdefuhrwerke wälzte sich eine Reihe roter Busse die Straße entlang. Der Motorenlärm und Benzingestank überwältigten Jonathan. Nahezu jeder, der vorbeilief, sprach in sein Mobiltelefon, das er zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt hatte, während er seine Einkaufstaschen neu ordnete. An jedem Geschäft leuchteten Bildschirme und Reklametafeln.
Aber es ging um mehr als die Technik. Während sich Jonathan in Darkside von jedem Passanten bedroht fühlte, beachtete ihn hier niemand. Er war einfach nur ein Jugendlicher. Mit Paketen und Einkaufstaschen beladene Pärchen drängten sich an ihm vorbei, lächelten und tuschelten miteinander. Als Jonathan die Lichterketten erblickte, die über die Straße gespannt waren, fiel ihm ein, dass es Anfang Dezember war und die Leute Weihnachtseinkäufe tätigten. Von überall her lächelten Weihnachtsmänner. Kein Wunder, dass die Straße so überfüllt war.
Ein Stückchen weiter unten hatte man einen Teil der Oxford-Street für den Verkehr gesperrt, sodass die Fußgänger mehr Platz hatten. Jonathan gesellte sich in der Mitte der Straße zu ihnen und erfreute sich an dem angenehm ebenen Asphalt. Nach den Wochen in Darkside hatten sich seine Füße an das holprige Kopfsteinpflaster gewöhnt. Er bewegte sich langsam wie ein Tourist und bewunderte jedes Detail. Musik schallte aus den Geschäften. Nicht die Art krächzender Musik, die Carnegie in seinen Gemächern auf seinem Grammofon hörte, sondern durchdringend hämmernde Technobeats.
Vor ihm hatte sich ein Kreis um einen Straßenkünstler herum gebildet, der gerade seine Darbietung anpries: »Meine Damen und Herren! Ich sollte an dieser Stelle erwähnen, dass ich den folgenden Trick erst nach jahrelanger Unterweisung durch die Großmeister dieser geheimen Kunst wagen kann.« Er machte eine Pause. »Sollte also etwas schiefgehen, so ist es ihre Schuld und nicht meine.«
Die Zuschauer flüsterten nervös. Jonathan drehte sich um und sah, wie eine Stichflamme über ihre Köpfe hinweg in den Himmel schoss. Die Zuschauer klatschten und jubelten, wobei sie eine Gasse bildeten, die gerade breit genug war, dass Jonathan einen Blick auf den Feuerspucker erhaschen konnte.
Es war Correlli. Selbst in der klirrenden Kälte trug er nur seine rote Weste und setzte somit seine gebräunte Brust der Kraft der Elemente aus. Im Licht des Sonnenuntergangs konnte Jonathan mehr von seiner Erscheinungerkennen als bei ihrer letzten Begegnung. Der Feuerschlucker war älter, als er gedacht hatte. Er besaß die bullige Figur eines Ringers, aber sein dünnes Haar war bereits von grauen Strähnen durchzogen. Was um Himmels willen machte er hier in Lightside? Während Jonathan mit offenem Mund dastand, trafen sich ihre Blicke.
Correlli starrte ihn ein paar Sekunden lang an, reagierte aber nicht. Dann erstickte er seine brennende Fackel in einem Wassereimer und wandte sich an das Publikum.
»Und nun, meine Damen und Herren, brauche ich einen Freiwilligen, der mir bei meinem gefährlichsten Trick assistiert. Mal sehen … dort hinten sehe ich einen geeigneten Kandidaten. Wie wäre es mit Ihnen, Sir?«
Er lächelte und deutet mit seiner Fackel genau auf Jonathans Herz.
12
Schlagartig drehten sich alle Zuschauer zu ihm um und lächelten ihm aufmunternd zu. Jonathan blieb wie angewurzelt stehen. Dutzende Fragen schossen ihm durch den Kopf. Was machte Correlli hier? Hatte er gewusst, dass Jonathan nach Lightside kommen würde? Bestimmt würde er es nicht wagen, ihm vor all diesen Leuten wehzutun? Der Feuerschlucker entzündete theatralisch seine Fackel, deren Widerschein die Schweißperlen auf seiner Brust glitzern ließ, und starrte Jonathan herausfordernd an.
In Ordnung, er würde es wohl wagen. Sicherlich würde er es sogar genießen.
»Der junge Mann scheint etwas schüchtern zu sein!«, rief Correlli lachend. »Spenden sie ihm doch einen aufmunternden Applaus.«
Das Publikum klatschte und jubelte. Der Lärm riss Jonathan aus seiner Betäubung. Er drehte sich um und rannte davon, wohl wissend, dass der Feuerschlucker ihn verfolgen würde. So überraschte es ihn auch nicht, als er hörte, wie Correlli laut »Dieb!« rief und hinter ihm her stürzte. Correlli war ein erfahrener und durchtriebener Mörder, der in ganz Darkside bekannt undgefürchtet war. Jonathan war nur ein Junge. Die Sache hätte in
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