Der Schwarze Phoenix
sei zum Sterben gut.«
15
In der Droschke herrschte Stille. Jonathan beobachtete, wie Raquella ängstlich an ihren Fingernägeln kaute. Er hätte gerne etwas gesagt, um sie zu beruhigen und zu trösten, aber er fand nicht die passenden Worte. Auf eine seltsame Weise hatte er Glück gehabt. Seine Mutter war vor so langer Zeit verschwunden, dass er nicht das Gefühl hatte, sie verloren zu haben. Er konnte sich ja gar nicht daran erinnern, wie es früher gewesen war, als Theresa noch bei ihm war. Wie viel schlimmer musste es sein, jemanden zu verlieren, den man seit Jahren kannte und liebte?
Obwohl sein Mitleid für Raquella aus tiefstem Herzen kam, konnte es nicht die aufkeimende Aufregung in seinem Inneren unterdrücken. Er war sich sicher, dass Theresa etwas entdeckt hatte, das die Gentlemen mit dem Mord an James Ripper in Verbindung brachte. Vielleicht hatten die Gentlemen sie entführt. Sicherlich war es doch nicht notwendig gewesen, Theresa umzubringen, redete sich Jonathan ein. Vielleicht wurde sie in einem Gebäude in der Nähe gefangen gehalten und wartete darauf, dass jemand kam, um sie zu retten. Vielleicht lief er jeden Tag an ihr vorbei. Eines standfür ihn mit Sicherheit fest: Einer der Gentlemen musste wissen, was mit ihr geschehen war. Wenn sie den Mord an James Ripper aufklären könnten, würden sie dann seine Mutter finden? Diese Vorstellung war zu schön, um wahr zu sein.
Neben Jonathan starrte Arthur Blake gedankenverloren aus dem Fenster. Der beleibte Reporter war atemlos vor Aufregung in Carnegies Büro gestürmt, hatte Raquella vollständig ignoriert und war mit seinen Neuigkeiten herausgeplatzt.
»Es hat einen weiteren Mord gegeben!«, schnaufte er. »Genau so wie der an Rafferty. Ich war gerade mit dem jungen Pierce dabei, unten in der ›Nirgendwo-Straße‹ einen Leichenfledderer zu befragen, als ich den Hinweis bekam. Ein Typ ist im ›Das letzte Abendmahl‹ abgeschlachtet worden. Ich habe es geschafft, mich durch den Hintereingang einzuschleichen, bevor die Leiche fortgeschafft wurde. So wie die aussah, war es derselbe Mörder, der auch Edwin umgebracht hat.«
Sogar Jonathan hatte schon vom »Das letzte Abendmahl« gehört und war auch schon mehrmals an der schwer bewachten Eingangstür vorbeigelaufen. Es erschien ihm seltsam, sich vorzustellen, dass dort drinnen jemand sein Leben verlor.
»Wie hieß der Ermordete?«, fragte er.
»Die Leute vom Restaurant haben versucht, alles zu vertuschen, aber ich habe dem Oberkellner ein paar Schilling zugesteckt, und er hat mir verraten, dass es ein Typ namens Humphrey Granville war.« Er sah denWermenschen erwartungsvoll an. »Sagt der Name dir was?«
Carnegie schüttelte den Kopf.
»Mir auch nicht. Aber es ist eine neue Spur, und irgendjemand wird ja wohl wissen, wer er ist. Lass uns gehen!«
Er war gerade auf dem Weg zur Tür, als ihn eine behaarte Hand an der Schulter packte und ihn aufhielt. Carnegie drehte Arthur um, sodass sie sich Auge in Auge gegenüber standen.
»So aufregend diese Nachricht auch sein mag, es scheint mir, du hast deine Manieren drüben im Restaurant vergessen. Die junge Dame, die du eben ignoriert hast, ist Raquella Joubert. Sie ist eine Freundin von uns.«
Arthur nickte dem Dienstmädchen verwirrt zum Gruß zu.
»Oh … h-hallo, junge Dame. Ich habe Sie gar nicht gesehen.«
Carnegie hob den Reporter hoch, sodass sich ihre Nasen sich fast berührten.
»Raquellas Vater wird vermisst. Verständlicherweise ist sie außer sich, und wir werden sehen, was wir tun können, um ihr zu helfen. Danach können wir uns vielleicht um diesen Granville kümmern.«
»Oh, n-natürlich«, stammelte Arthur, während seine Füße auf der Suche nach Halt in der Luft baumelten. »Sch-schließlich ist sie ja eine Freundin.«
Der Wermensch grinste und stellte den Reporter auf dem Boden ab.
»Freut mich, dass wir das klären konnten. Wollen wir aufbrechen?«
Nun hielten sie vor einem bescheidenen Reihenhaus in Lower Fleet an. Weiter die Straße hinunter trampelten Kinder über das Kopfsteinpflaster und spielten auf dem Bürgersteig, aber vor diesem Haus war niemand. Raquella kletterte langsam aus der Droschke und führte ihre Gäste durch die Eingangstür.
Jonathan war beim Betreten des Hauses der Jouberts nervöser als bei allen anderen Orten, die er in Darkside je besucht hatte. Er fühlte sich mit Carnegie und Arthur an seiner Seite wie ein Eindringling. In der Eingangshalle herrschte eine Atmosphäre der Trauer und des
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