Der Schwarze Phoenix
Kummers. Leises Flüstern drang aus einem Zimmer im Erdgeschoss. Als Jonathan Raquella durch die Tür folgte, stockte ihm der Atem.
Es war ein kleiner, düsterer Raum. Von der Straße her drang gedämpftes Kindergelächter durch die geschlossenen Vorhänge. Georgina Joubert saß auf dem Sofa und wiegte ein Baby in ihren Armen. Ihr Gesicht barg die Spuren einer tränenerfüllten, schlaflosen Nacht. Neben ihr saß Marianne, die sich mit ruhiger Hand eine Tasse Tee einschenkte.
Instinktiv spannte Jonathan seine Muskeln an. Die Kopfgeldjägerin war als Ausdruck ihres Mitgefühls ganz in Schwarz gekleidet, sogar ihre Haare waren rabenschwarz. Als Jonathan sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie gerade in das »Becken der Schrecken« im »Kabinett der exotischen Bestien« gesprungen, um Humble, ihren Handlanger, zu retten. Jonathan hatteimmer noch das Bild vor Augen, wie ihre weißen Haare im Licht geleuchtet hatten. Obwohl er Marianne hassen sollte – schließlich war sie gefährlich und hatte Alain und ihn in tödliche Gefahr gebracht –, musste er, als er sie sah, sich eingestehen, dass seine Gefühle für sie doch etwas komplexerer Natur waren.
Sie blickte auf, als sie eintraten, und lächelte.
»Hallo allerseits. Wie geht es euch?«
Carnegie entfuhr ein tiefes Knurren. Marianne schenkte eine zweite Tasse Tee ein und sprach weiter.
»Ich fürchte, dass nicht genügend Tee für alle da ist. Ihr hättet Georgina sagen sollen, dass ihr vorbeikommt.«
»Marianne«, brummte der Wermensch mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich bin überrascht, dich zu sehen.«
»Ich dachte mir, ich schaue mal vorbei, um zu sehen, wie es den Jouberts so geht. Weißt du, diese Angelegenheit ist solch eine schreckliche Belastung für die Familie.«
»Sie ist so liebenswürdig«, wisperte Georgina. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
Sie ließen sich mit Unbehagen auf einer Auswahl verschiedener Stühle nieder. Jonathan sah Carnegie an, dass dieser innerlich kochte. Der Wermensch knackte mit den Fingern, als brenne er darauf, Marianne zu erwürgen, und feuerte eine Salve böser Blicke auf die Kopfgeldjägerin ab. Sollte Georgina sich der vorherrschenden Atmosphäre der Gewaltbereitschaft bewusst sein, so hatte sie sich offensichtlich entschlossen, diesezu ignorieren. Sie überreichte Raquella das Baby und nahm einen Schluck Tee.
»Es ist äußerst liebenswürdig von Ihnen, dass Sie gekommen sind, Mister Carnegie, aber ich bin mir nicht ganz sicher, wie Sie uns helfen könnten. Mein William hat sich in Luft aufgelöst, und ich weiß nicht, warum.«
»Raquella erwähnte eine Nachricht, in der von einer Art Geheimnis die Rede war.«
Georginas Gesicht verfinsterte sich.
»Um was auch immer es sich dabei handelt, er hat es gut vor mir verborgen. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch, ich wusste, dass irgendetwas geschehen war. Wir haben nicht immer so gelebt.« Sie deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf das beengte Wohnzimmer. »Während der ersten Jahre unserer Ehe hatte William echte Perspektiven. Man hatte ihm eine Stelle bei der erfolgreichsten Bank von Darkside angeboten. Er war dabei, einer der bedeutendsten Männer der Schattenwelt zu werden, und jeder wusste das. Ich erinnere mich noch gut an die eifersüchtigen Blicke, mit denen ich bedacht wurde, wenn wir in unserer Kutsche fuhren …«
Georgina lächelte, als die Erinnerungen in ihr aufstiegen, und senkte den Blick auf ihre Teetasse. Als sie weitersprach, zitterte ihre Stimme.
»Und dann erhielten wir einen Brief von der Bank, in dem uns mitgeteilt wurde, dass sie das Stellenangebot zurückziehen. Einfach so … Es war vorbei. Ein Teil von William starb an diesem Tag. Er bemühte sich, eine andere Arbeitsstelle zu bekommen, aber wo auch immerer sich vorstellte, schlug man ihm die Tür vor der Nase zu. Es war, als versuchte jemand zu verhindern, dass er irgendeine Stelle findet. Aber es betraf nicht nur die Arbeit. Alle unsere Freunde wandten sich von uns ab. Niemand wollte uns helfen. William wurde nicht einmal mehr in den Kain-Club gelassen.«
Jonathan und Arthur tauschten überraschte Blicke aus. Der Reporter wollte gerade eine Frage stellen, als sich die Tür öffnete und Humble und Skeet den Raum betraten.
Bei genauerem Nachdenken hätte Jonathan klar sein müssen, dass Marianne nicht ohne sie kommen würde. Trotzdem war es ein Schock für ihn, sich beiden plötzlich gegenüberzusehen. Der stille Riese Humble stieß mit dem Kopf an die Decke und musste sich
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