Der schwarze Prinz
Herzen des Chaos neue Wesen - unter ihnen die Titanen Ymir und Audhumbla. Ymir erschuf Bestla und Audhumbla brachte Buri hervor, der wiederum Borr gestaltete. Borr und Bestla wurden Vater und Mutter der ersten Asen: Odin,...«
»Vilu und Ve«, fuhr Svenya fort. »Ich weiß. Sie töteten ihren Großvater Ymir, und aus ihm beziehungsweise seiner Magie entstanden die drei Welten Asgard, Midgard und Hel.«
»Ganz korrekt betrachtet entstand aus ihm nur Asgard. Hel war ursprünglich auch ein Teil Niflheims, das beim Kampf zwischen Ymir und seinen Enkeln verwüstet wurde und fortan nur noch als ein Reich der Toten taugte. Midgard formten die Asen später aus einem Teil Asgards, nachdem sie sich die Menschen erschaffen hatten, um angebetet zu werden. Aber die Geschichte, die ich dir erzählen will, beginnt, als die Asen noch keine Götter waren, sondern nichts weiter als marodierende Rüpel mit jeder Menge Unfug in den Köpfen.«
Svenya lachte auf. »Das klingt für mich schon ganz nach Göttern.«
Hagen schmunzelte. »Wie immer hatte Loki seine Finger im Spiel. Ich frage mich oft, wie sich das Schicksal der Neun Welten durch diesen einmaligen, scharfsinnigen Geist entwickelt hätte, wäre sein eigenes Geschick nicht schon vor seiner Geburt von nichts als Unheil überschattet worden. Seine Mutter Laufey war eine Jötunn, die eines Tages beim Hüten der Ziegen ihres Vaters vom Weg abkam und dabei, ohne es zu merken, die Grenze von Jötunheim nach Muspelheim überschritt. Erst als ihre Tiere unter der steigenden Hitze zu sterben begannen, wurde sie ihres Fehlers gewahr und machte schleunigst kehrt. Doch da war es bereits zu spät. Der Wildfeuergeist Färbauti, ein Geschöpf des Surtr, entdeckte und überfiel sie. Er tat ihr Gewalt an, und erst als er sie fast zu Tode geschunden hatte, ließ er von ihr ab.
Schwer verwundet schleppte Laufey sich zurück nach Jötunheim und genas nur langsam von ihren Verletzungen. Die weise Alte, die sie pflegte, erkannte schon nach Kurzem, dass die Schändung mehr Spuren hinterlassen hatte als nur die Wunden: Laufey war schwanger. Die Alte bot sich an, ein Gebräu herzustellen, mit dem das ungeborene Kind entfernt werden konnte, aber Laufey brachte es nicht übers Herz. Mochte das Kind auch das Ergebnis der Tat eines grausamen Wesens sein, so war es selbst doch unschuldig und hatte nicht den Tod verdient, sondern das Leben. Die Alte warnte sie eindringlich, es sich noch einmal zu überlegen - schließlich war nicht vorauszusehen, was es am Ende für ein Kind sein würde, das da im Entstehen befindlich war. Doch Laufey blieb eisern und trug das Ungeborene aus.
Und so kam es, dass Loki schon bei seiner Ankunft in die Welt großes Unheil anrichtete: Denn als die Zeit schließlich reif war, wurde er nicht auf natürliche Weise geboren - er brannte von innen aus der Mutter heraus und tötete sie dabei unter großen Qualen.
Laufeys Vater wollte, all seinen Instinkten folgend, den neugeborenen Knaben auf der Stelle erschlagen, aber sein Weib hielt ihn davon ab. Nicht aus Mitleid für das Kind, denn das empfand sie nicht, sondern aus Angst davor, dass ihr Gatte einen großen Fluch auf sich laden würde, wenn er Blut von seinem Blut mit eigener Hand mordete. Also setzten sie den Neugeborenen in der Wildnis aus und überließen ihn dem Schicksal. Dort war es, wo der junge Odin ihn auf einer seiner vielen Wanderschaften fand und ihn mit nach Hause nahm, um ihn zusammen mit seinen anderen Söhnen zu erziehen - ohne sich der natürlichen und fast schon unschuldigen Grausamkeit des Kindes bewusst zu sein. Die entfaltete sich erst sehr, sehr viel später zu ihrem vollen Umfang, als Loki erfuhr, dass er in Wirklichkeit gar nicht Odins leiblicher Sohn war, und die Wahrheit seiner Herkunft erforschte und ans Licht des Tages brachte. In der Zwischenzeit aber wuchs er heran und wurde zu einem Wandergefährten des Asen, den er für seinen Vater hielt. Doch auch schon lange vor der Entdeckung seiner echten Identität trieben ihn seine schalkhafte Natur und die Erkenntnis, schwächer zu sein als alle seine Geschwister, zu Hinterlist und böswilligem Unfug. Ohne ihn wäre nichts von all dem hier überhaupt erst geschehen.«
Längst hatten sie mit der atemberaubenden Geschwindigkeit eines jagenden Falken Meißen durchquert, dann Riesa, Torgau und Wittenberg und hielten nun direkt auf Magdeburg zu. Doch Svenya hatte ihre Umgebung kaum wahrgenommen - sie war inzwischen zu sehr von Hagens Erzählung gefesselt...
Weitere Kostenlose Bücher