Der schwarze Prinz
des Ostens . Also hat er das, was er damals als Geschichte kannte, und das, was er für Mythen und Legenden hielt, einfach zusammengeflickt, hat behauptet, Sigurd stamme aus Xanten, Gunnars Königssitz habe in Worms gelegen.«
»Krass«, entfuhr es Svenya. »Einfach mal aus politischen Gründen die ganze Nummer gefaked?«
Hagen lachte noch einmal. »So könnte man es natürlich auch ausdrücken. Oder, um es mit deinen Worten zu sagen: Yep!«
»Er hat also aus Ereignissen, die mit seiner Heimat nichts zu tun hatten, einen deutschen Mythos erfunden, um den Deutschen Orden zu gründen und mit Heldentum zu motivieren, um mit Gewalt aus Heiden Christen und aus Feindesland deutsches Land zu machen.«
Hagen nickte anerkennend. Svenya sah, dass die Anerkennung ihrer raschen Auffassungsgabe galt und nicht etwa den Taten des Bischofs. »Er hat die Geschichte der Heiden zu einer der Christen gemacht, um den Christen die Abstammung von Helden vorzugaukeln, damit er sie in einen Glaubenskrieg gegen die schicken konnte, die in Wahrheit von ihnen abstammten. Und er hatte damit auf lange Sicht sogar Erfolg, wenn man die Entwicklung des Deutschen Ordens, des späteren Preußens und des heutigen Deutschlands näher betrachtet.«
Als Svenyas Hirn die Fakten weiter verarbeitete, fiel ihr wieder einmal auf, wie alt Hagen, der Mann, den sie liebte, in Wirklichkeit war. Das Nibelungenlied, wenn auch zusammengeschustert, war schon fast neunhundert Jahre alt und erzählte von ihm - der gerade selbst gesagt hatte, dass die Ereignisse, durch die es inspiriert war, noch einmal fast tausend Jahre älter waren. Wie wenig wusste sie doch von ihm...
»Was ist damals wirklich geschehen?«, fragte sie.
Hagens Lachen verschwand, und für einen Moment war Svenya sich sicher, dass er ihr wie so oft eine ausweichende Antwort geben würde. Doch dann schaute er sie direkt an und sagte: »Ich werde dir auf der Fahrt davon erzählen.«
TEIL 4
REISE DURCH DIE VERGANGENHEIT
35
Elbe
Ungeachtet der Tatsache, dass kaum ein Wind zu wehen schien, blähten sich die Segel des magischen Schiffes, sobald es die Mitte des Flusses erreicht hatte, und es nahm schnell an Fahrt auf. Auf der Steuerbordseite zogen die Innere Neustadt und der Palaisgarten vorüber, während Svenya links im Süden den Blick schweifen ließ über die Brühlsche Terrasse, die Frauenkirche und den Schlossplatz, wo sich Hunderte von Touristen tummelten, von denen nicht wenige auf das Wasser hinaus blickten, ohne ihrer jedoch gewahr zu werden. Sosehr Svenya mit ihrer eigenen Tarnung vertraut war, empfand sie die Unsichtbarkeit doch noch immer als Phänomen. All die Augen, die in ihre Richtung schauten und weder sie noch Hagen oder das wundersame Schiff sehen konnten... Sie fragte sich, wie oft wohl in der Zeit, ehe sie zu den Elben kam und als obdachloses Menschenmädchen am Elbufer und unter den Brücken verbracht hatte, Hagen auf Skidhbladhnir ganz dicht an ihr vorübergefahren sein mochte, ohne dass sie auch nur eine Ahnung davon hatte - und noch im Nachhinein lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken; eine Gänsehaut, die nur zum Teil eine wohlige war.
Der Fahrtwind nahm mit der Geschwindigkeit zu, und Svenya sog die Aromen des Flusses genussvoll durch die Nase ein. Hagens schneeweißes Haar wehte weit nach hinten. »Zunächst möchte ich, dass du eine Vorstellung bekommst von den geografischen Gegebenheiten der Zeit, in der sich zugetragen hat, wovon ich dir berichten will.«
»Erdkunde?«, fragte Svenya und gab sich kein Stück Mühe, ihr Desinteresse daran zu verbergen.
»Es ist wichtig, damit du verstehst, warum nordisch und germanisch und deutsch so oft verwechselt und durcheinandergebracht werden, oder auch, warum die Burgunden der wirklichen Ereignisse nicht zu verwechseln sind mit den Burgunden oder Burgundern aus der Gegend um Worms und dem späteren Burgund in Frankreich.«
»Mir fallen schon jetzt die Augen zu«, beschwerte sie sich.
»Gut«, sagte Hagen. »Dann halte sie geschlossen und vergiss alles,
was du über heutige Grenzen und Landesgebiete weißt. Stell dir die Ostsee im Zentrum einer Landkarte vor, statt im Nordosten einer Deutschlandkarte. Denn die Ostsee war damals im zweiten und dritten Jahrhundert, also zu der Zeit um die Geschichte Sigurds, der zentrale Wasserweg, der all die Seevölker um sie herum auf dem direktesten aller Wege miteinander verband.
Da, wo heute Schleswig-Holstein ist und Hamburg - also an der Mündung der Elbe - lebten die
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