Der schwarze Prinz
sie.
»Ich kann nicht sagen, wie es in den Besitz meines Vaters gelangt ist«, antwortete Hagen. »Es war ein Geschenk zu meiner Geburt. Ich habe es schon mein ganzes Leben lang.«
»Und kann es wirklich all das, was man ihm zuschreibt?«
Hagen lächelte stolz. »Es kann so groß werden, wie es sein muss, um so viel Mann zu tragen wie nötig. Der Wind steht immer günstig in seinen Segeln, und es findet Kurs und Ziel, ohne gesteuert oder bedient werden zu müssen.«
Svenya betrachtete fasziniert, wie das goldene Schiff seine endgültige Form annahm. Sie verstand nicht viel von der Seefahrt, aber das Gefährt erinnerte sie vom Bau des Rumpfes her mehr an ein Wikingerschiff als an die Segelschiffe, die sie aus Piratenfilmen im Kino kannte. Allerdings waren die drei großen Segel dreieckig und in Schiffslängsrichtung gesetzt, fast wie bei einem modernen Segelboot. Sie waren gefächert wie die von chinesischen Dschunken. Der Bug, der wie ein Drachenkopf geformt war, und das zu einem steil aufgerichteten Schwanz geschnitzte Heck liefen schmal zu, und dazwischen war das Schiff breit und flach.
»Wir werden damit nicht ganz so schnell sein wie mit einem Helikopter«, sagte Hagen. »Aber dafür weniger leicht zu entdecken. Schiff und Crew sind für Radar, Menschenaugen und auch für die Augen der meisten Unsterblichen unsichtbar.«
»Unsere Helis haben ebenfalls Stealth-Modus.«
»Der ist aber bei Weitem nicht so zuverlässig wie der Zauber Skidhbladhnirs.«
Svenya glaubte das nur zu gerne und sprang hinüber auf die Planken, die sich unter ihren Füßen eher wie weiches und geschmeidiges Balsaholz anfühlten und nicht wie kaltes Gold. Sie konnte die Magie des Schiffes als Kribbeln auf ihrer Haut spüren. Als auch Hagen an Bord kam, legte die Skidhbladhnir sofort mit der Strömung der Elbe in nordwestlicher Richtung ab.
»Wie kommen wir damit zum Rhein?«, fragte Svenya.
»Wenn wir zum Rhein wollten, würden wir die Kanäle dorthin benutzen.«
»Wir wollen gar nicht zum Rhein?«
»Nein«, sagte Hagen. »Was hätten wir denn dort verloren?«
»Na ja, gemäß des Nibelungenlieds waren Siegfried und...«
»Stopp-stopp-stopp«, unterbrach er sie mit einem Lachen. »Ich vergesse immer wieder, dass Raegnir uns verließ, ehe er dich unsere jüngere Geschichte lehren konnte, die - das kann ich dir versichern - absolut nichts zu tun hat mit dem Rhein. Nicht, dass wir nicht hin und wieder einmal zum Rhein fahren - es ist eine wirklich wunderschöne Ecke -, aber die Ereignisse um Sigurd, den Drachen und die Burgunden fanden weit entfernt davon statt.«
Hagen machte mit beiden Händen eine Geste, und das Schiff begann - zumindest fühlte es sich für Svenya so an - lebendig zu werden. Taue surrten, und die Rahen richteten sich wie von Geisterhand bewegt aus.
Hagen winkte sie nach vorne in den Bug und fuhr fort: »Das Nibelungenlied, von dem du sprichst, ist eher Propaganda - oder, sagen wir einmal, lediglich eine extrem verzerrte Bearbeitung der tatsächlichen Ereignisse ... die fast tausend Jahre vor der Komposition des Nibelungenlieds stattgefunden haben.«
»Fast tausend Jahre?«
Hagen nickte. »Es wurde erst im zwölften Jahrhundert vom Bischof von Passau, einem Mann namens Wolfger von Erla, in Auftrag gegeben, nordischen Quellen nachempfunden und inhaltlich, aber auch geografisch so umgestaltet, dass es seiner eigenen christlichen Mission dienlich war. Du musst wissen, dass selbst zur Zeit der späten Entstehung dieser Nachdichtung weite Teile dessen, was du heute als Deutschland kennst - und ganz besonders die östliche Hälfte - noch weit von einer Christianisierung entfernt waren. Die Handlung der ursprünglichen Quellen wurde daher im Auftrag des Bischofs räumlich so umgelegt, dass sie für seine Christenfreunde an Donau und Rhein auch interessant war ... etwas, womit sie sich identifizieren konnten. Man konnte ihnen ja schlecht Helden präsentieren aus Regionen, die selbst im zwölften Jahrhundert noch zutiefst heidnisch waren - also aus Sicht des Bischofs Feindesland. Aber der Hauptgrund für die Neuerfindung der Saga war ein politischer.«
»Politisch?«
»Wolfger von Erla hatte die Idee, aus Priestern, aber vor allem aus der großen Menge an Rittern, die im Jahr 1190 erfolglos und verarmt von ihrem Kreuzzug gegen Jerusalem zurückkehrten, einen Orden zu gründen. Den Deutschen Orden. Die Aufgabe dieser Söldner sollte es werden, den Osten und den Norden zu missionieren. Man nannte das die Kolonisation
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