Der schwarze Schleier
ich sei kein sehr beredter Mann, wenn man mich überraschte oder mein Herz rührte.
»Die Sache ist beschlossen«, sagte Mylady, »beschlossen. Sie werden feststellen, dass Ihre Pflichten sehr gering sind, Mr. Silverman. Zauberhaftes Haus, zauberhafter kleiner Garten, Obstwiese und alles. Sie werden auch Schüler aufnehmen können. Übrigens! Nein, darauf werde ich später zurückkommen. Was wollte ich gerade erwähnen, ehe mich dieser Gedanke ablenkte?«
Mylady starrte mich an, als wüsste ich es. Aber ich wusste es nicht. Das verwirrte mich erneut.
Dann sagte Mylady nach einigem Überlegen: »Ach, natürlich, wie dumm von mir. Dem letzten Inhaber der Pfründe – dem am wenigsten gewinnsüchtigen Mann, den ich je kennengelernt habe – ließ es keine Ruhe, dass seine Pflichten so gering waren, es sei denn, sagte er, ich erlaubte ihm, mir bei meiner Korrespondenz, der Buchhaltung und verschiedenen Kleinigkeiten dieser Art zu helfen; an sich nichts, aber doch Dinge, die einer Dame Schwierigkeiten bereiten. Würde Mr. Silverman das auch …? Oder soll ich …?«
Hastig beteuerte ich ihr, meine geringe Hilfe würde Mylady stets zu Diensten sein.
»Ich fühle mich gesegnet«, sagte Mylady und drehte ihre Augen zum Himmel (wandte sie endlich wenigstens einenAugenblick von mir ab), »dass ich mit Herren zu tun habe, die nicht einmal die Andeutung aushalten, dass man sie für gewinnsüchtig halten könnte!« Sie schauderte bei dem Wort. »Und nun zu der Schülerin.«
»Der …?« Ich war völlig ratlos.
»Mr. Silverman, Sie haben ja keine Vorstellung, wie sie ist. Sie ist«, sagte Mylady und legte zart ihre Hand auf meinen Jackenärmel, »ich glaube wirklich, dass sie das außergewöhnlichste Mädchen auf Erden ist. Sie kann schon jetzt mehr Griechisch und Latein als Lady Jane Grey 1 . Und sie hat sich alles selbst beigebracht! Sie ist noch nicht, vergessen Sie das nicht, auch nur einen Augenblick lang in den Genuss von Mr. Silvermans Kenntnissen in den klassischen Fächern gekommen. Ganz zu schweigen von der Mathematik, in der sie unbedingt Hervorragendes erreichen und in der (wie ich von meinem Sohn und anderen gehört habe) Mr. Silverman so zu Recht einen glänzenden Ruf genießt!«
Unter dem Blick von Mylady, davon bin ich überzeugt, muss ich völlig die Sprache verloren haben, doch weiß ich nicht, wann das geschehen ist.
»Adelina«, sagte Mylady, »ist meine einzige Tochter. Wenn ich nicht vollkommen davon überzeugt wäre, dass mich hier nicht die Voreingenommenheit einer Mutter blind gemacht hat, und wenn ich nicht vollkommen sicher wäre, dass Sie, sobald Sie sie einmal kennen, Mr. Silverman, es für ein großes und ungewöhnliches Privileg halten werden, sie bei ihren Studien anzuleiten, dann würde ich jetzt ein finanzielles Argument ins Gespräch bringen und Sie fragen, zu welchen Konditionen Sie …«
Ich flehte Mylady an, nicht weiterzureden. Mylady sah, dass ich bestürzt war, und machte mir die Ehre, meine Bitte zu erfüllen.
Kapitel 8
All das, was ihr Bruder auf geistigem Gebiet hätte erreichen können, wenn er gewollt hätte, gepaart mit all dem liebenswürdigen Charme und den bewundernswerten Eigenschaften, über die nur sie allein verfügen konnte – all das war Adelina.
Ich werde mich hier nicht lange über ihre Schönheit auslassen, und ich will mich nicht über ihre Intelligenz, ihre rasche Auffassungsgabe, ihr Gedächtnis und die freundliche Rücksicht auslassen, die sie vom ersten Augenblick an für ihren schwerfälligen Hauslehrer zeigte, der sich ihrer wunderbaren Begabungen annahm. Ich war damals dreißig, jetzt bin ich über sechzig; und noch heute steht sie mir in diesen Stunden so gegenwärtig vor Augen, wie sie damals war, strahlend und schön, klug und phantasievoll und gut.
Wann ich entdeckt habe, dass ich sie liebte, wie kann ich das sagen? Am ersten Tag? In der ersten Woche? Im ersten Monat? Unmöglich, dem nachzuspüren. Wenn ich (was der Fall ist) nicht in der Lage bin, irgendeinen vorherigen Zeitraum meines Lebens von ihrer Anziehungskraft ganz und gar zu trennen, wie kann ich mich dann in dieser einen Einzelheit entscheiden?
Wann immer ich diese Entdeckung machte, sie erlegte mir eine schwere Bürde auf. Doch wenn ich sie mit der wesentlich schwereren Bürde vergleiche, die ich mir danach selbst auflud, scheint sie mir im Nachhinein nicht sehr schwer zu tragen gewesen zu sein.
In dem Wissen, dass ich sie liebte und wohl mein Leben lang lieben würde und dass ich
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