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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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mein Geheimnis stets tief in meiner Brust verbergen musste und sie es nie herausfinden durfte, lag für mich eine Art Stütze und Freude oder Stolz oder Trost, gemischt mit meinem Schmerz.
    Aber später – sagen wir, ein Jahr später, als ich eine andere Entdeckung machte – wurden Leiden und Kampf erst wirklich schwer. Diese andere Entdeckung war …
    Diese Worte werden das Licht des Tages, wenn überhaupt jemals, erst erblicken, wenn mein Herz zu Staub zerfallen ist, wenn auch ihr strahlender Geist in jene Regionen zurückgekehrt ist, von denen er, als er sich hier in irdischer Gefangenschaft befand, sicherlich eine ungewöhnliche Erinnerung bewahrt hat, bis alle Pulsschläge, die rings um uns pochen, längst verstummt sind, wenn die Früchte all der kleinen Siege und Niederlagen, die in unserer Brust errungen wurden, bereits vergangen sind. Diese Entdeckung war, dass auch sie mich liebte.
    Adelina hat vielleicht mein Wissen überschätzt und mich dafür geliebt; sie hat vielleicht meine Pflichterfüllung ihr gegenüber zu hoch bewertet und mich dafür geliebt; oder sie hat ein spielerisches Mitleid in sich wachsen lassen, das sie manchmal für meinen, wie sie es sagte, Mangel an Weisheit im Licht der dunklen Laternen der Welt empfand und mich dafür geliebt; sie hat vielleicht – nein, bestimmt! – das geborgte Licht dessen, was ich nur gelernt hatte, mit der gleißenden Helle seiner reinen, ursprünglichen Strahlen verwechselt; aber sie liebte mich damals und ließ es mich wissen.
    Der Stolz der Familie und der Stolz des Reichtums entfernten mich in Myladys Augen so weit von ihr, als wäre ich ein handzahm gemachtes Wesen einer völlig anderen Art. Aber sie konnten mich nicht weiter von ihr entfernen, als ich selbst es tat, wenn ich meine Verdienste mit denihren verglich. Mehr als das. Sie konnten mich, um Millionen von Klaftern, nicht halb so tief unter sie stellen, wie ich selbst es tat, wenn ich in Gedanken ihr edles Vertrauen ausnutzte und das Vermögen nahm, von dem ich wusste, dass es ihr von Rechts wegen zustand, sodass sie sich auf dem Gipfel ihrer Schönheit und ihres Geistes an einen rostigen, schwerfälligen Kerl wie mich gebunden sah.
    Nein! Selbstsucht sollte hier auf gar keinen Fall ins Spiel kommen. Wenn ich versucht hatte, diese Untugend in anderen Gefilden meines Lebens zu meiden, wie viel mehr musste ich nun versuchen, sie von diesem geheiligten Ort fernzuhalten!
    Aber in ihrer offenen, großzügigen Art war etwas Wagemutiges, das man in einer so heiklen Krise mit viel Feingefühl und Geduld behandeln musste. Und in mancher bitteren Nacht (oh, ich stellte in dieser Lebensphase erneut fest, dass ich nicht nur aus ausschließlich körperlichen Gründen weinen konnte!) plante ich meinen Weg.
    Mylady hatte mir bei unserer ersten Unterredung wohl unbewusst die Räumlichkeiten in meinem hübschen Haus etwas übertrieben dargestellt. Es war dort nur für einen einzigen Schüler Platz. Dies war ein junger Herr, der beinahe volljährig war und ausgezeichnete Verbindungen hatte, allerdings ein sogenannter armer Verwandter war. Seine Eltern waren tot. Die Kosten für sein Logis und seinen Unterricht wurden von einem Onkel bestritten; mir war aufgetragen, dass er und ich drei Jahre lang alles in unseren Kräften Stehende tun sollten, um ihn zu befähigen, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Damals hatte er gerade sein zweites Jahr bei mir angefangen. Er sah gut aus, war gescheit, energiegeladen, begeistert, kühn, im besten Sinne des Wortes ein echter junger Angelsachse.
    Ich beschloss, diese beiden zusammenzubringen.
    Kapitel 9
    Da sagte ich eines Abends, nachdem ich mich dazu überwunden hatte: »Mr. Granville« – er hieß Mr. Granville –, »ich frage mich, ob Sie Miss Fareway schon einmal gesehen haben?«
    »Nun, Sir«, erwiderte er lachend, »Sie sehen sie selbst so oft, dass Sie einem anderen Burschen kaum eine Gelegenheit dazu lassen.«
    »Ich bin ja auch ihr Hauslehrer, wissen Sie«, sagte ich.
    Und damit ließen wir dieses Thema vorläufig fallen. Aber ich sorgte dafür, dass sie einander kurz darauf trafen. Bisher hatte ich dafür gesorgt, dass sie einander fernblieben; denn während ich sie liebte – ich meine, bevor ich mich zu meinem Opfer entschlossen hatte –, lauerte in meiner unwürdigen Brust die Eifersucht auf Mr. Granville.
    Es war ein recht gewöhnliches Zusammentreffen im Fareway Park, aber sie redeten einige Zeit lang ungezwungen miteinander: Gleich und gleich

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