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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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alles einreden können, was sie wollen –, ›ich habe oft geglaubt, dass ich nicht die niedere Person bin, für die man mich hält.‹
    ›Sie hatten recht‹, rief der alte Herr und drückte ihn noch einmal an sich. ›Kommen Sie herein. Meine Nichte erwartet uns.‹
    ›Sieht die junge Dame annehmbar aus, Sir?‹, fragte Tom, der nicht sofort auf die Sache eingehen wollte, weil er sichüberlegte, sie würde gewiss Piano spielen und Französisch sprechen und auch sonst alle möglichen Fertigkeiten aufweisen.
    ›Sie ist wunderschön!‹, rief der alte Herr, der vor lauter Übereifer schweißgebadet war. ›Sie hat eine anmutige Haltung, eine vollkommene Gestalt, eine süße Stimme, eine Miene, die vor Lebendigkeit und Ausdruck strahlt; und ihre Augen‹, sagte er und rieb sich die Hände, ›sind wie die eines scheuen Rehs.‹
    Tom nahm an, damit könnte gemeint sein, was man in seinen Kreisen einen ›Silberblick‹ nannte, und erkundigte sich angesichts dieses vermuteten Defekts, ob die junge Dame Geld hätte.
    ›Sie hat fünftausend Pfund‹, rief der alte Herr. ›Aber was halten Sie davon? Was halten Sie davon? Ein Wort in Ihr Ohr: Ich bin auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Ich habe ihn beinahe gefunden – noch nicht ganz. Der macht alles zu Gold; das vermögen solche Steine wahrhaftig.‹
    Tom fand natürlich, dass das einiges an Vermögen war; und er sagte, wenn der alte Herr es bekäme, dann hoffte er, er würde sorgfältig darauf achten, es in der Familie zu halten.
    ›Gewiss‹, sagte der, ›natürlich. Fünftausend Pfund. Was sind schon fünftausend Pfund für uns? Was fünf Millionen?‹, meinte er. ›Was sind fünf Millionen? Geld bedeutet uns nichts. Wir werden es gar nicht schnell genug ausgeben können.‹
    ›Wir werden sehen, was sich machen lässt, Sir‹, sagte Tom. ›Das tun wir‹, antwortete der alte Herr. ›Ihr Name?‹
    ›Grig‹, erwiderte Tom.
    Der alte Herr umarmte ihn wiederum sehr fest; und ohne ein weiteres Wort zu sprechen, zerrte er ihn so aufgeregt hinter sich ins Haus, dass Tom gerade eben noch seine Fackel und seine Leiter packen und in den Flur stellen konnte.Meine Herren, ich denke, selbst wenn Tom nicht ohnehin für seine Wahrheitsliebe bekannt gewesen wäre, hätten Sie ihm geglaubt, als er sagte, das alles sei wie ein Traum gewesen. Es gibt keine bessere Methode, wie ein Mann herausfinden kann, ob er wirklich schläft oder wach ist, als um etwas Essen zu bitten. Wenn er träumt, meine Herren, dann setzt man ihm etwas vor, dem es an Geschmack fehlt, darauf können Sie sich verlassen.
    Tom erklärte dem alten Herrn seine Zweifel und meinte, wenn es im Haus etwas kalten Braten gäbe, würde es ihn sehr beruhigen, seinen Zustand daran sofort zu überprüfen. Der alte Herr ließ eine Wildpastete, einen kleinen Schinken und eine Flasche sehr alten Madeira kommen. Beim ersten Mundvoll Pastete und dem ersten Glas Madeira schmatzte Tom mit den Lippen und rief: ›Ich bin wach – hellwach‹, und um zu beweisen, dass das stimmte, meine Herren, machte er mit beidem reinen Tisch.
    Als Tom seine Mahlzeit beendet hatte (von der er später nie ohne Tränen in den Augen sprach), umarmte ihn der alte Herr noch einmal und sagte: ›Edler Fremder! Wir wollen meine junge und liebreizende Nichte aufsuchen.‹ Tom, der vom Wein ein wenig belebt war, erwiderte: ›Der edle Fremde ist nicht abgeneigt!‹ Worauf der alte Herr ihn bei der Hand nahm und in das Wohnzimmer führte; und während er die Tür öffnete, rief er: ›Hier ist Mr. Grig, der Günstling der Planeten!‹
    Ich werde mich nicht daran versuchen, weibliche Schönheit zu beschreiben, meine Herren, denn jedem von uns schwebt bei diesem Wort ein Musterexemplar vor, das seinem eigenen Geschmack am besten entspricht. In diesem Wohnzimmer, von dem ich spreche, waren zwei junge Damen; und wenn jeder der anwesenden Herren sich zwei eigene Musterexemplare an ihrer statt vorstellt und dieFreundlichkeit hätte, sie zur höchsten Vollkommenheit aufzupolieren, dann bekäme er eine schwache Ahnung von ihrer ungewöhnlichen Strahlkraft.
    Neben diesen beiden jungen Damen war noch ihre Zofe anwesend, die Tom unter anderen Umständen als wahre Venus erschienen wäre; und neben ihr stand ein langer, dünner, trübselig blickender junger Herr, halb Mann, halb Junge, der einen kindischen Anzug trug, der ihm an Armen und Beinen viel zu kurz war, und der laut Toms Vergleich wie eine jener wächsernen Puppen vor der Tür einer

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