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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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der Kazike 1 , will sagen der Fürst des Stammes.
    Falls meine geneigten Leser das Glück hatten, einmal die Beerdigung eines Laternenanzünders mitzuerleben, so werden sie nicht überrascht sein, wenn sie nun erfahren, dass Laternenanzünder ein seltsames und primitives Völkchen sind; dass sie starr an alten Zeremonien und Gebräuchen festhalten, die vom Vater zum Sohn weitergereicht wurden, seit die erste öffentliche Laterne im Freien entzündet wurde; dass sie untereinander heiraten und ihre Kinder schon im Säuglingsalter einander versprechen; dass sie keine Komplotte oder Verschwörungen anzetteln (denn wer hätte je von einem verräterischen Laternenanzünder gehört?); dass sie keine Verbrechen gegen die Gesetze ihres Landes begehen (da kein Fall eines mörderischen oder einbrecherischen Laternenanzünders bekannt ist); dass sie, kurz gesagt, trotz ihres scheinbar flüchtigen und ruhelosen Charakters ein höchst moralisches und nachdenkliches Völkchen sind: da sie so viele traditionelle Bräuche haben wie die Juden und als Zunft, wenn schon nicht so alt wie die Berge, dann doch mindestens so alt wie die Straßen sind. Einer ihrer Glaubenssätze ist, dass das erste schwache Aufleuchten einer wahren Zivilisation mit der ersten Straßenlaterne einherging, die auf öffentliche Kosten betrieben wurde. Sie führen ihre Existenz und ihr hohes öffentliches Ansehen in gerader Linie auf die heidnische Mythologie zurück und behaupten, dass die Geschichte des Prometheus selbst nur eine nette Fabel ist, deren wahrer Held ein Laternenanzünder ist.
    »Meine Herren«, sagte der vorsitzende Laternenanzünder, »ich trinke auf Ihr Wohl!«
    »Und vielleicht, Sir«, meinte der Stellvertreter, hielt sein Glas in die Höhe, erhob sich ein wenig von seinem Stuhl und setzte sich wieder hin, um anzuzeigen, dass er das Kompliment entgegennahm und erwiderte, »vielleicht geruhenSie sich noch mehr herabzulassen und uns zu verraten, wer Tom Grig war und wie es kam, dass er Ihrer Meinung nach etwas mit Francis Moore, dem Arzt, zu tun hatte.«
    »Hört, hört, hört!«, riefen die Laternenanzünder allgemein.
    »Tom Grig, meine Herren«, sagte der Vorsitzende, »war einer von uns; und es geschah etwas, das einer öffentlichen Persönlichkeit in unserem Geschäft nicht oft geschieht, dass nämlich sein Wie-nennt-man-das-gleich dargestellt wurde.«
    »Sein Porträt?«, fragte der Stellvertreter.
    »Nein«, antwortete der Vorsitzende, »nicht sein Porträt.«
    »Vielleicht seine Silhouette?«, schlug der Stellvertreter vor. »Nein, nicht seine Silhouette.« – »Seine Beine?« – »Nein, nicht seine Beine.« Auch nicht seine Arme, nicht seine Hände, nicht seine Füße, nicht seine Brust, die alle von irgendwo vorgeschlagen wurden.
    »Vielleicht seine Nativität 2 ?«
    »Genau, das war’s«, sagte der Vorsitzende, der bei diesem Vorschlag aus seiner nachdenklichen Haltung aufschreckte. »Seine Nativität, die hat Tom sich darstellen lassen, meine Herren.«
    »Als Gipsbild?«, fragte der Stellvertreter.
    »Ich weiß nicht genau, wie das gemacht wird«, erwiderte der Vorsitzende. »Aber ich nehme an, ja.«
    Und dann hielt er inne, als wäre das alles, was er zu sagen hatte; darauf erhob sich ein Gemurmel unter der Gesellschaft, das sich schließlich zu einer Bitte verdichtete, die vom Stellvertreter vorgetragen wurde: Er möge weitersprechen. Da dies genau das war, was der Vorsitzende beabsichtigte, grübelte er noch eine kleine Weile, nahm jeneangenehme Zeremonie vor, die gemeinhin als »sich die Kehle befeuchten« bezeichnet wird, und fuhr folgendermaßen fort: »Tom Grig, meine Herren, war, wie ich bereits sagte, einer von uns; und ich darf noch weitergehen und sagen, er war eine Zierde für uns, und eine solche, wie sie nur die gute alte Zeit des Öls und der Baumwolle hervorbringen konnte. In Toms Familie, meine Herren, waren alle Laternenanzünder.«
    »Aber doch nicht die Damen, will ich hoffen?«, fragte der Stellvertreter.
    »Begabt genug wären sie gewesen, Sir«, erwiderte der Vorsitzende, »und sie wären es auch geworden, wenn es nicht die Vorurteile in der Gesellschaft gegeben hätte. Lassen Sie die Frauen ihre Rechte haben, Sir, und Toms weibliche Familienmitglieder wären jede Einzelne von ihnen im Amt. Aber diese Emanzipation ist noch nicht gekommen und war es auch damals noch nicht, und folglich haben die Frauen sich in den Schoß der Familie zurückgezogen, Essen gekocht, Kleider geflickt, auf die Kinder aufgepasst,

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