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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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die verschiedenen Schweizer
Käse. Harte, weiche, mit Löchern und ohne, aus Kuh- und aus Ziegenmilch, rund
und keilförmig. Das reinste Mäuseparadies. Als das Mädchen hinter der Theke mir
einen Würfel an einem Zahnstocher zum Probieren anbot, zögerte ich zuerst,
wagte es dann aber doch, wenn auch mehr aus Höflichkeit. Ich steckte den
Käsewürfel in den Mund.
    Oh. Mein Gott. Keine Spur von Knetmasse
oder diesem allzu milden Geschmack, den man kaum wahrnimmt und den ich hasse.
Meine Geschmacksknospen blühten auf, als sie den festen und dennoch cremigen
Käse mit würzigem Aroma und einer Spur von Kräutern zu schmecken bekamen. In
meiner Naivität glaubte ich, ich hätte etwas ganz Besonderes entdeckt. Aber
natürlich kannten meine Schweizer Essensgäste den Käse bestens, schließlich aßen
sie seit Jahrhunderten Appenzeller. Sie waren allerdings so höflich, mich meine
Entdeckung genießen zu lassen. Seither frage ich mich, warum man im Ausland vor
allem Emmentaler und Gruyère als Schweizer Käse kennt.
    Nach diesem einschneidenden Erlebnis im Coop haben
mich noch viele andere Schweizer Käse in Versuchung geführt, und zu jedem gibt
es eine Geschichte. So ist der Tilsiter erstaunlicherweise nach einer Stadt in
Ostpreußen benannt, wo sein Schweizer Erfinder als Emigrant lebte, bevor er 1893 zurückkehrte;
der recht harte Sbrinz, eine Art Schweizer Parmesan, wird nur in 34
Käsereien am Vierwaldstätter See hergestellt. Für den seidenweichen Tête de
Moine gibt es einen speziellen Käsehobel, mit dem man ihn zu dünnen Rosetten
schaben kann. Den Schweizern sind sie alle ebenso vertraut wie der Emmentaler,
doch für mich waren sie eine wunderbare Entdeckung, auch wenn keiner mehr so
viel Verzückung hervorrief wie der Appenzeller. Ein Käse, so markant wie die
Gegend, aus der er stammt.

Uriges für den Romantiker
    Falls Sie noch nie vom hügeligen, üppig grünen
Appenzellerland gehört haben, geht es Ihnen nicht besser als den meisten
anderen Ausländern. In der Schweiz selbst ist es allerdings berühmt, und das
nicht nur wegen des einzigartigen Käses. Diese ländliche Gegend ist der
traditionellste oder, falls Sie einer dieser wenig nachsichtigen Städter sind,
ein ziemlich rückständiger und beschränkter Kanton. Die Appenzeller haben ihre
eigene Baukultur, einen unverwechselbaren Dialekt und ebensolche Trachten, was
sie oft zur Zielscheibe Schweizer Gespötts macht. Noch immer sieht man Männer
mit roten bestickten Westen, schwarzen Hosen und flachen schwarzen Hüten, dazu
einen silbernen Ohrring in einem Ohr, »als sei die Zeit stehen geblieben«, wie
es auf der Internetseite von Appenzellerland-Tourismus so nett heißt. Hier wird
Tradition tatsächlich gelebt, was man nirgends besser sieht als an Festtagen
wie dem Muttertag, der zwar kein gesetzlicher Feiertag ist, aber trotzdem
begangen werden muss.
    Wie in Deutschland ist Muttertag immer am zweiten
Sonntag im Mai und eine Riesensache – im Unterschied zu England, wo er, an
Ostern gekoppelt, wie ein verirrtes Lamm durch den März wandert. Die Züge sind
rappelvoll mit pflichtbewusstem Nachwuchs, der, mit mächtigen Blumensträußen,
Topfpflanzen, knallbunten Päckchen oder makellos weißen Tortenschachteln
bepackt, zu Muttern nach Hause fährt. Merkwürdigerweise gibt es aber keine
Gratulationskarten zum Muttertag, was schlicht daran liegt, dass die Schweizer
keine großen Kartenschreiber sind. Geburtstags-, Beileids-, Genesungswünsche,
Gratulationen und sogar Weihnachtskarten findet man hier nur selten. Laut einem
Artikel in Der Bund vom 21. 11. 2009 schreibt der Schweizer
durchschnittlich acht Karten im Jahr, während in den USA – ein wahres El Dorado für Grußkartenfirmen – 45 pro Person die Regel
sind. In der Schweiz lässt man offenbar, zumindest am Muttertag, lieber Blumen
sprechen.
    Als wir in Brülisau eintreffen, sind die Festivitäten
bereits in vollem Gange. Der kleine Weiler liegt am Fuß des Hohen Kasten (siehe
Landkarte der Ostschweiz). Alle Einwohner sind auf dem Weg zum
Muttertags-Gottesdienst, auf den Treppenstufen der Kirche spielt die örtliche
Blaskapelle, und jeder trägt sein bestes Gewand. Bei den Frauen gehört dazu ein
steifer Kopfputz aus weißer Spitze, der an diese fächerförmigen
Serviettenhalter erinnert. Das wichtigste Detail ist das

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