Der Schweizversteher
Schweizer Ort kann man auch Gruyères mit
öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen, aber da es weitab vom Schuss zwischen
Bern und Lausanne liegt, bedeutet das eine lange, verzwickte Zugfahrt, egal von
wo. Es bietet sich an, mit dem Auto zu fahren, und wieder kommt mir meine Familie
wie gerufen. Entlastungsparkplätze, einer hauptsächlich für Busse, säumen die
StraÃe den Berg hinauf und sind bereits gut mit Fahrzeugen besetzt. Parkplatz
Nummer eins neben der Stadtmauer ist sogar schon voll, obwohl es noch Vormittag
und beileibe nicht Hochsaison ist. Man stelle sich nur vor, wie es hier
aussieht, wenn Gruyères im Sommer von der übergroÃen Mehrzahl seiner jährlich
einen Million Besucher überrannt wird â eine echte Herausforderung für ein
Ãrtchen mit nur 170
Einwohnern.
Gruyères ist eher ein Dorf als ein Städtchen, durch
das nur eine StraÃe führt â aber was für eine StraÃe! Breit wie ein
FuÃballplatz führt sie kopfsteingepflastert zuerst bergab zu einem in der Mitte
stehenden Brunnen und dann wieder bergauf, wo sie sich dramatisch verengt, um
sich durch das Tor in der Schlossmauer zu zwängen. Links und rechts wird sie
von hübschen mittelalterlichen Häusern mit weit überstehenden Dachtraufen
gesäumt, deren Steinmauern fast alle verputzt sind, die Blumenkästen sind der
reinste Farbenrausch. Das überaus fotogene Ensemble ähnelt mehr einer
Filmkulisse als einem bewohnten Ort.
Bei näherer Betrachtung stellt sich dann heraus, dass
in fast jedem Gebäude entweder ein Restaurant oder ein Geschäft für Touristen
ist, was den ästhetischen Eindruck ein bisschen trübt. Milchprodukte aller Art
quellen förmlich aus jedem Laden und türmen sich drauÃen auf Tapeziertischen:
Käse, Sahne, Buttertoffees und, mein persönlicher Favorit, confiture
de lait , die Schweizer Variante von dulce de leche .
Der Karamellcreme-Aufstrich schmeckt einfach köstlich auf frischem weichem Brot
â meine Vorstellung von himmlischem Manna im Glas.
Alle Restaurants haben eine Freischankfläche auf dem
Platz und scheinbar dieselbe Speisekarte einschlieÃlich »101 Arten, Käse zu essen«,
so wie man an einer Hafenpromenade überall dieselben Fischgerichte angeboten
bekommt. In Londons Chinatown habe ich mir immer vorgestellt, dass eine einzige
GroÃküche unter Tage alles kocht und das Essen dann mit kleinen Bötchen in die
verschiedenen Lokale transportiert. Vielleicht ist es ja hier genauso.
In so einem überlaufenen Ort muss man unbedingt
reservieren. Als wir uns aufs Geratewohl ein Restaurant aussuchen, gibt uns die
gestresste Bedienung mehr als deutlich zu verstehen, dass unser Tisch aber
höchstens zehn Minuten lang frei gehalten wird, danach würde er an die nächsten
wartenden Gäste vergeben. Wer tagein, tagaus solche Menschenmengen verköstigen
muss, vergisst scheinbar manchmal die einfachsten Grundregeln der Höflichkeit.
Allerdings sind die Bedienungen in der Schweiz meist ebenso geradeheraus wie
die übrigen Bewohner dieses Landes. Hier gibt es keinen Small Talk, und auf
verbindliche Nettigkeiten muss man ebenso verzichten wie auf Rüschen an den
Schürzen und anderen Tand. Auch dass sich eine Bedienung mit Vornamen vorstellt
wie in angelsächsischen Ländern, ist einfach unvorstellbar. Das wäre für einen
Schweizer viel zu intim.
Als wir, immer mit Blick auf die Uhr, von der
Schlossbesichtigung zurückkehren, ist auf dem sonnigen Platz der Teufel los.
Sämtliche Restaurants sind rappelvoll mit Gästen, die ihr Quantum Käse
verspeisen, meist in geschmolzener Form aus einem Topf heraus.
Käse mit Wein, das schmeckt fein
Fondue ist das Geschenk der Schweiz an die
kulinarische Welt. Deutschschweizer widersprechen manchmal, wenn man es als das
Schweizer Nationalgericht bezeichnet, aber so sehr sie Rösti auch mögen â und
sie mögen sie sehr â, Rösti sind in den anderen Gebieten der Schweiz einfach
nicht so beliebt. Fondue wiederum kann man auch weitab von seinem eigentlichen
Ursprung in den französischsprachigen Kantonen finden, ob in den Gassen von
Niederdorf in Zürich, in den Almhütten von St. Moritz oder in den Urlaubsorten
im Berner Oberland. Und trotz des französischen Namens (der auf das
französische Verb fondre für »schmelzen« zurückgeht)
ist es ein original Schweizer Gericht.
Falls Sie sich in den
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