Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
Vom Netzwerk:
Band, das hinten von
der Haube herunterhängt: verheiratete Frauen tragen ein rotes, Witwen ein
schwarzes, ein weißes heißt, dass die Schöne noch zu haben ist. Und wenn eine
Frau keinen Kopfputz trägt, bedeutet das, dass sie ihr Verfallsdatum
überschritten hat. Es wirkt ein bisschen wie die Die Frauen
von Stepford ins Mittelalter versetzt, doch wenn die gesamte weibliche
Bevölkerung in diesem Aufzug die Kirche betritt, ist das zweifellos ein
beeindruckendes Bild.
    Fast unheimlich wirkt das Dorf Oberriet, wo in jedem
Garten und auf jedem Feld eine Vogelscheuche Wache steht, als rechneten die
Dorfbewohner mit einer Vogelinvasion à la Hitchcock. Dabei bilden die
Vogelscheuchen eine kunterbunte Truppe: Eine trägt ein Hochzeitskleid, eine
andere einen Geschäftsanzug; ein pummeliger Mann steht neben einer
minimalistischen Skulptur nur aus Ästen, behängt mit Stroh; selbst eine
Riesenkrähe wie aus einem Horrorfilm ist mit von der Partie. Es stellt sich
heraus, dass die Einwohner 531
Vogelscheuchen gebastelt haben, um damit ins Guinness-Buch der Rekorde zu
kommen. Vielleicht hat es sie gelangweilt, immer nur die schönste Kuh zur Miss
Oberriet zu wählen und sie bei der Bezirksviehschau um den Titel der Miss
Rheintal antreten zu lassen – nein, das ist kein Scherz.
    Die Strohpuppen von Oberriet verschwinden im
Rückspiegel, als wir ins Herz des Appenzellerlandes vorstoßen, ein fruchtbares,
welliges Plateau in einer von felsigen Bergen umgebenen Senke. Trotz der wild
zerklüfteten Berge am Horizont verspüre ich ein Gefühl von Weite, das sich im
Emmental nirgends einstellen wollte. Wie überall in der ländlichen Schweiz
tüpfeln Bauernhöfe in verblüffend regelmäßigen Abständen die Landschaft; jeder
ist offenbar immer genau eine Jodeldistanz von seinem Nachbarn entfernt.
    In der Schweiz hat jede Region ihren eigenen Baustil,
worauf die Schweizer ziemlich stolz sind. Im Vergleich zu den scheunengroßen
Höfen im Emmental sind die Appenzeller Bauernhäuser winzig, ja fast zierlich.
Die zweistöckigen Gebäude erinnern an Unsere kleine Farm ,
die meisten haben Schindelfassaden, manche sind hellblau oder gelb gestrichen.
Im rechten Winkel an jedes Bauernhaus angebaut ist die Scheune, sodass ein T -förmiger Grundriss entsteht. Damit ist dafür gesorgt,
dass Vieh und Besitzer nachts eng beieinander sind.
    Nach all den hügeligen Feldern und bäuerlichen
Traditionen wirkt Appenzell dann wie eine pulsierende Metropole, obwohl es ein
Städtchen mit nur 6000
Einwohnern ist. Mein letzter Besuch hier fand während der Landsgemeinde statt (siehe Kapitel vier), als die Stadt rappelvoll bis zu den bemalten
Dachsparren war. Diesmal kann man die Gebäude ungehindert betrachten. Wenn man
die nur für Fußgänger freigegebene Hauptgasse hinunterspaziert, fühlt man sich
in eine Parallelschweiz versetzt, die nach Disneyland passen könnte. Die alten
Holzhäuser erstrahlen in einem Kaleidoskop aus Farben und sind mit kunstvollen
Schablonenmustern verziert. Über unseren Köpfen hängt ein Schilderreigen, die
geschwungenen goldenen Formen verweisen auf eine Apotheke, ein Hotel oder eine
Metzgerei. Die Schaufensterauslagen sind gut gefüllt mit hiesigen Spezialitäten
und Kunsthandwerk wie Birnenbrot und reizend bestickten Stoffen neben Schweizer
Standardsouvenirs wie Kühen, die jodeln, wenn man ihnen auf den Bauch drückt.
Und natürlich mit Käse, rund oder keilförmig, der verführerisch aussieht. Jedes
Mal, wenn sich eine Ladentür öffnet, entweicht eine pikante Duftwolke und
verfolgt uns wie das Nebelwölkchen im Cartoon, während wir weitergehen. Es ist
Sonntag, und Appenzell liegt in einem katholischen Halbkanton, doch manche
Geschäfte sind geöffnet, um aus den vielen Touristen, die sich auf den Straßen
tummeln, größtmöglichen Profit zu ziehen.
    Anders als im April ist der unregelmäßig geformte
Landsgemeindeplatz mehr oder weniger menschenleer. Erst jetzt fällt mir richtig
auf, dass fast jedes Haus eine bemalte Holzfassade hat und die Gebäudefront in
einer gelbroten Farbpalette leuchtet – von Sonnengelb über Hummerrot bis
Schokoladenbraun. Wir setzen uns an einen Tisch unter Lindenbäumen und gönnen
uns eine Kleinigkeit zu Mittag. Die Speisekarte ist so traditionell wie der
Ort, das heißt, sie bietet eine Menge Schmankerl für Fleischesser

Weitere Kostenlose Bücher