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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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merkt man, dass es doch ein
bisschen anders ist als die übrige Schweiz. Der Busfahrer hält unterwegs an
einer Bar, um schnell einen Espresso zu trinken; die Geschäftsleute in den
Cafés auf der Piazza lesen nicht die NZZ ,
sondern den Corriere della Sera ; am frühen Abend gibt
es eine passegiata zum Sehen und Gesehenwerden oder
einen gemächlichen Spaziergang durch den Ort; und jeder Autofahrer hält sich
für einen Italiener. Das wäre an und für sich kein Problem, doch da die meisten
Fußgänger aus nördlicheren Schweizer Gefilden stammen, erwarten sie, dass hier
dieselben Vorschriften gelten wie zu Haus. So haben Fußgänger im Rest des
Landes an einem Fußgängerüberweg das Vorrecht, während im Tessin hingegen das
Recht des Schnelleren gilt – ein Aufeinanderprallen der Kulturen, das viele
Beinahe- und hin und wieder auch ein paar ernste Unfälle zur Folge hat.
    Die Deutschschweizer kommen allerdings nicht hierher,
um sich im Straßenverkehr den Puls hochjagen zu lassen, und auch nicht des
Essens wegen, das sie bei ihrem Italiener um die Ecke ebenso bekommen, sie
wollen die Landschaft und die Sonne genießen. Man wird hier als
Deutschschweizer ja nicht nur mit Palmen, blauem Himmel, hervorragender
Eiscreme und glitzernden Seen verwöhnt, man kann auch mit Franken bezahlen,
kommt ohne Italienischkenntnisse aus und muss keine Angst vor Taschendieben
haben. In den meisten Reiseführern wird das Tessin die Schweizer Riviera
genannt, richtiger aber wäre es als Schweizer Jersey oder Guernsey betitelt –
ein sonniger Fluchtpunkt im eigenen Land. Der große Unterschied ist, dass man
es per Zug erreichen kann.
    Nach dem Vierwaldstätter See windet sich der Zug gen
Süden in Richtung des felsigen Gotthardmassivs durch ein immer enger werdendes
Tal und klettert dabei höher und höher die Berge hinauf. Man taucht in Tunnel
ein und wieder daraus auf, manchmal in entgegengesetzter Richtung, weil der Zug
im Berginneren eine 180-Grad-Kurve
gemacht hat. Dann ein letzter langer Tunnel, und man ist südlich der Alpen. Die
Luft ist klarer, die Sonne scheint heller und die Häuser sind bunter –
vielleicht aber auch nur, weil man hier italienische Laute hört. Und das nur
zwei Stunden von Zürich entfernt, dank dem St.-Gotthard-Tunnel, der 1882
bei seiner Eröffnung als modernes Wunderwerk bejubelt wurde. Wenn Sie 2017
wiederkommen, wird sich die Fahrtzeit noch einmal verkürzt haben, denn die Schweizer
bohren gerade den längsten Eisenbahntunnel der Welt, die Neue
Eisenbahn-Alpentransversale ( NEAT ). Sie wird 57
Kilometer lang sein und zwölf Milliarden Franken kosten, ein weiterer Beweis,
dass die Schweizer beim Tunnelbau keine halben Sachen machen.
    Sobald man in Lugano aus dem Zug gestiegen ist, fühlt
man sich wirklich nach Italien versetzt. Bleistiftdünne Zypressen punktieren
den Himmel, riesige Salami hängen vor der macelleria ,
und auf der verstopften Seeuferstraße ertönt ein unermüdliches Hupkonzert. Doch
damit man nicht vergisst, in welchem Land man wirklich ist, steht unten am
Wasser eine Statue von Guillermo Tell. Und im nahen Caslano gibt es eine echte
Schweizer Schokoladenfabrik. Ich folge einfach meiner Nase.
    Als ich auf dem erhöhten Laufsteg über dem
Alprose-Fertigungsbereich stehe, schließe ich einen Moment lang die Augen und
atme den gehaltvollen berauschenden Duft ein. Ich könnte stundenlang hier
stehen bleiben, wäre es nicht so unglaublich laut, denn unter mir klacken,
zischen und knallen eine Menge Maschinen. Durch Plexiglasscheiben kann ich den
gesamten Herstellungsprozess von der cremigen braunen Grundmasse bis zu
ordentlich in Schachteln gestapelten Tafeln beobachten. Die zentrale Gießform
spuckt 504
Tafeln pro Minute aus, die zuerst gekühlt und dann in Stapeln zum Verpacken
transportiert werden. Weiß gekleidete Arbeiterinnen mit Handschuhen und
Haarnetzen machen Stichproben, picken Mängelexemplare heraus und schichten das
fertige Produkt in Schachteln. Alles in einem Rhythmus, der hypnotisch auf mich
wirkt. Dass es hier aber aussieht wie in einem Medizinlabor, hätte ich nicht
erwartet – nicht gerade die glamouröse Seite der Schokoladenindustrie. Keine
Schokoladenfontänen, keine Umpa-Lumpas. Allerdings ist dank der
Plexiglasabschirmung wohl auch auszuschließen, dass ich mich in eine riesige
Blaubeere verwandle. Und zumindest hatte ich wie Charlie

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