Der Schweizversteher
Gelegenheit zu sehen
und zu riechen, wie Schokolade gemacht wird. Ein letzter tiefer Atemzug, dann
gehe ich, bevor ich zu sabbern anfange.
Die Schweiz ist wirklich klein
Auftrag erledigt. Ich beschlieÃe, auf einem Umweg nach
Bern zurückzufahren und so eine Rundreise durch das ganze Land zu machen. Dazu
muss ich als Erstes in Locarno umsteigen, Luganos groÃe Konkurrentin als
bedeutendste Stadt im Tessin. Die Schweizer scheinen ein bisschen Rivalität
zwischen ihren Städten zu schätzen, da machen die Tessiner keine Ausnahme.
Lugano ist das Finanzzentrum, Locarno mit dem jährlichen Filmfestival die
Kulturmetropole; Lugano hat seinen eigenen See, während sich Locarno mit dem
Nordzipfel des Lago Maggiore zufriedengeben muss, der auch noch gröÃtenteils
italienisch ist. Das Lustige dabei: Keine der beiden Städte ist
Kantonshauptstadt, das ist das winzige Bellinzona im Norden.
Ich steige in die Centovallibahn, eine langsame
Schmalspurbahn, die sich bis nach Italien schlängelt. Mit der Holztäfelung, den
Gepäcknetzen und den geblümten Polstersitzen ist das Abteil ein Zeitsprung in
die 1950er-Jahre,
man rechnet damit, im Nebenabteil Miss Marple stricken zu sehen. Schon bald
sind keine Spuren menschlicher Besiedlung mehr zu entdecken; höchstens dass man
hin und wieder einen Blick auf eine SerpentinenstraÃe oder einen scheinbar
völlig überflüssigen Bahnhof mitten im Nirgendwo erhascht. Trotzdem ist der Zug
rappelvoll, weil sowohl Einheimische als auch Touristen die unverfälschte
Landschaft der hundert Täler (italienisch cento valli ,
daher der Name des Zuges) genieÃen wollen. Steilhänge in verschiedenen Grün-
und Grautönen ziehen vorbei, in der Luft liegt ein Hauch von
Latschenkiefer-Badeextrakt, unter den Brücken plätschern kristallklare
italienische Bäche. Alles sehr idyllisch, bis wir in Domodossola umsteigen
wollen. Diese Stadt gehört nur deshalb zum Schweizer Eisenbahnnetz, weil sie
inmitten eines italienischen Keils liegt, der sich wie ein übergroÃer Stalagmit
in die Schweiz hineinbohrt. Doch sehr bald wird klar, dass hier nicht Schweizer
das Sagen haben.
Neunzig Minuten später, für Eidgenossen also eine
halbe Ewigkeit, drängen sich die Menschen immer noch massenhaft auf dem
Bahnsteig und warten darauf, dass die Italiener endlich eine Lokomotive für
ihren Zug nach Bern auftreiben. Der Schaffner zuckt nur mit den Schultern und
sagt mit hochgezogenen Augenbrauen »Italiener!«, was für einen Schweizer
Zugschaffner fast schon ein Zornesausbruch ist. SchlieÃlich zuckelt der Zug aus
dem Bahnhof. Doch was so eine Verspätung bewirkt! Von ihrem gemeinsamen Leiden
angestachelt wagen sich die Menschen in dem überfüllten Waggon aus ihrer
üblichen Reserve und fangen an zu plaudern.
Die beiden Herren mir gegenüber sind 99 und 91
Jahre alt, dies ist ihr alljährlicher gemeinsamer Tagesausflug. Der Kellner mit
dem Getränkewagen trällert Charles-Aznavour-Melodien, und die Familie auf der
anderen Gangseite will an einem Tag das ganze Land bereisen: Sie ist um sechs
Uhr morgens in Oberriet aufgebrochen. Irgendwie kommt mir der Ortsname bekannt
vor, und als mir die Leute erzählen, wie alle in ihrem Dorf gemeinsam
Vogelscheuchen gebastelt haben, um ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen (was
nicht geklappt hat), fällt mir ein, dass ich einmal dort war. Dass ich Monate
nach meiner Durchreise durch das Dorf am anderen Ende des Landes auf ein paar
Oberrieter treffe, zeigt mir, wie klein die Schweiz ist. Und wenn die Schweizer
Züge öfter Verspätung hätten, würden die Ureinwohner vielleicht auch häufiger
miteinander reden, und das ganze Land würde ein bisschen offener werden? Was
für ein revolutionärer Gedanke.
Das Land der Müesli-Esser
Mit dem Fondue und der Milchschokolade haben die
Schweizer zwei der weltbesten Köstlichkeiten erfunden. Als ob sie für diese
Dekadenz büÃen wollten, geht aber auch das alleralbernste gesunde Frühstück auf
ihr Konto. So gesund der Schüsselinhalt sein mag, Aussehen und Konsistenz von
kaltem Haferbrei sind nun einmal ziemlich unappetitlich. Und nichts anderes ist
Müesli, zumindest das nach Schweizer Art (gekennzeichnet mit dem
landestypischen »e« in der Mitte). Dieses Gemisch aus Vogelfutter und
Sägespänen namens Alpenmüesli hatte in der englischsprachigen Welt schon immer
einen schlechten Ruf; man
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