Der Schweizversteher
Plakat mag für den Betrieb einer Eisenbahn
unerheblich scheinen, für mich war es aber höchst aufschlussreich. Sauberkeit
und Pünktlichkeit sind selbstverständlich, aber zu wissen, wo ein bestimmter
Waggon am Bahnsteig halten wird, erscheint mir wie ein Wunder. SchlieÃlich war
ich den Londoner Bahnhof Waterloo gewohnt, wo Sie in der Regel erst wenige
Minuten vor der Abfahrt erfahren, an welchem Bahnsteig Ihr Zug abfährt. In der
Schweiz drängen sich niemals Menschenmengen vor den Anzeigetafeln, um auf die
Information zu warten, zu welchem Bahnsteig sie spurten müssen. Auch an groÃen,
voll ausgelasteten Bahnhöfen wie Zürich oder Bern werden die Gleisnummern für
jeden Zug einmal im Jahr festgelegt und auf den Fahrplänen ausgedruckt. So kann
jeder am richtigen Ort warten, und die Anschlussverbindungen werden
einschlieÃlich der Gleisnummern durchgesagt. Typisch Schweiz.
Gemeinsam sind wir â¦
Die SBB haben nicht nur
gut geplante Fahrpläne, sie locken auch die Menschen von den StraÃen in die
Züge. Sie wollen zum Madonna-Konzert in Zürich oder zum Pokalendspiel nach
Bern? Dann ist in Ihrer Eintrittskarte die Zugfahrt inbegriffen, Sie können das
Auto also ruhig stehen lassen. Eine super Idee! Oder wie wärâs mit einer
Juniorkarte für 30
Franken pro Jahr, damit fahren Ihre Kinder oder Enkel ein Jahr kostenlos mit,
sogar auf atemberaubend teuren Routen wie dem Jungfraujoch (siehe unten)? Das
ist ein echter Renner, vor allem wenn Sie mit einem Doppeldeckerzug durchs Land
fahren, der eigens einen Familienwagen hat: unten Platz für den Buggy, oben ein
Spielplatz mit allem Möglichen, was die kleinen Engel glücklich macht: Die
Schweizer haben eben Sinn fürs Detail. Vielleicht der gröÃte Marketingerfolg
oder wenigstens einer, der die Eidgenossen besonders anspricht, sind aber die
Gruppenbillette.
Die Schweizer tun sich gern zu Gruppen zusammen. Egal
welche Freizeitbeschäftigung Sie sich ausdenken, Sie finden garantiert irgendwo
in der Schweiz einen entsprechenden Verein oder eine Gruppe dafür â das muss
daran liegen, dass Kokosnüsse gern Haufen bilden. Vielleicht aber sind die
Schweizer gute Organisation einfach so gewohnt, dass sie auch ihren Feierabend
lieber geordnet verbringen. Sich mit anderen zusammenzuschlieÃen ist unter
Eidgenossen geradezu ein Muss, und ein Ausländer, der sich um die Schweizer
Staatsangehörigkeit bemüht, sollte seine Integrationsfähigkeit durch die
Mitgliedschaft in irgendeinem Verein beweisen. Da wird es für mich allmählich
Zeit, mal wieder Tischtennis zu spielen oder Gesangsstunden zu nehmen oder
vielleicht das Blasen auf etwas Langem, Hartem wie dem Alphorn zu erlernen.
Gruppen verreisen gern gemeinsam, zumindest in der
Schweiz, wo sie bei den SBB kostenlose
Platzreservierung und FahrpreisermäÃigungen erhalten. Kein Wunder, dass es in
den Waggons oft nur so von Pfadfindern und Senioren wimmelt, die der Berg ruft.
Oder von Schulklassen auf Museumsexkursion. Oder von GroÃfamilien bei einer
gemeinsamen Tagestour. Oder von Belegschaften auf Betriebsausflug. Alles klar?
Als gelernter Individualist konnte ich erstaunt
beobachten, wie sich die Schweizer Dynamik in der Gruppe verändert und das
Stereotyp des ruhigen, reservierten, ernsthaften Eidgenossen Lügen straft. Im
Umgang mit Fremden mögen sie sich zunächst so geben, aber miteinander
unterhalten sie sich gern ungehemmt in italienischer Lautstärke. Wenn Sie den
Waggon mit Schweizer Gruppenreisenden teilen, haben Sie am Ende der Fahrt
Kopfschmerzen oder Mordgelüste gegenüber der Frau mit dem gackernden Lachen
(oder beides). Das mag der Grund sein, warum die SBB Gruppen separat unterbringen, meist im letzten Waggon des Zugs. Das ist
pragmatisch, rettet aber auch Leben. Wenn die Gruppe hinter Ihnen die ganze
Fahrt über merkwürdig ruhig ist, spielt sie wahrscheinlich Karten. Und dabei
kann es sich nur um ein Spiel handeln.
Mit den Schweizern jassen
Jass ist so ähnlich wie Bridge, nur mit völlig anderen
Karten, und es ist eine Leidenschaft bei Jung und Alt. Jass wird nicht nur in
Zügen gespielt, sondern auch in Kneipen, nach dem Essen im Restaurant oder
online. Es gibt sogar Jass-Abende, bei denen zwanzig Paare in einem
Rundenturnier gegeneinander antreten.
Stellen Sie sich Folgendes vor: 18.45 Uhr, Samstag, SF 1,
der meistgesehene Schweizer TV -Kanal, beste
Sendezeit für eine
Weitere Kostenlose Bücher