Der Schweizversteher
anderen Seite der Rigi wurde der Bau der Strecke von Goldau im
Kanton Schwyz vorangetrieben, die erst 1875 in Betrieb genommen
wurde. Allerdings stellte das Unternehmen den letzten Abschnitt bis zum Gipfel
schon zwei Jahre früher fertig. So irre das klingen mag, es bedeutete immerhin,
dass die Schwyzer von den Luzerner Rivalen für die Nutzung des Gleises von der
Grenze bis zum Gipfel Gebühren kassieren konnten. Also doch nicht ganz so irre.
Die beiden Bahnlinien verschmolzen 1992 zur Gesellschaft Rigi-Bahnen, aber noch
heute zockeln Züge in unterschiedlichen Farben zum Gipfel hinauf: die roten
sind die Luzerner, die blauen kommen von der Schwyzer Seite.
Mit der Rigi-Bahn begann die eidgenössische
Schienen-Gipfelstürmerei, der kein Berg zu hoch war. In den folgenden vierzig
Jahren mussten sich Berge in der ganzen Schweiz der Macht von Eisen und Dampf
beugen. Heutzutage würden diese Bahnen wohl aus Umweltschutzgründen nicht mehr
genehmigt, aber die Farbe Grün war im 19. Jahrhundert nicht en vogue , und so verlegte man eifrig Gleise. Auf der
anderen Seite des Vierwaldstätter Sees führt die steilste Bergbahn der Welt auf
den schroffen Pilatus, sie wurde 1889 mit einer Maximalsteigung von 48
Prozent eröffnet. Drüben am Brienzer Rothorn verkehrt die letzte Dampfbergbahn
der Schweiz, die seit 1892
aufwärtsschnauft. Die Krönung aber ist eine Bergfahrt im Innern des Eiger zu
Europas höchstgelegenem Bahnhof, der 1912 in Betrieb ging.
Schienen ebneten den Weg und lockten Bergtouristen an. Und zwar noch heute zu
Tausenden. Ohne die Urlauber wären die Bergbahnen vielleicht nie gebaut worden,
und zweifellos hätten sie nicht bis heute überlebt. Ohne die Bergbahnen kämen
weniger Touristen in die Schweiz, und die wenigen würden weniger Geld
hierlassen. Eine Beziehung, von der beide Seiten profitieren â Gott sei Dank.
Mir wäre es zuwider, wegen der Aussicht all diese Gipfel besteigen zu müssen.
SchlieÃlich bin ich kein Schweizer.
Das Verbundnetz
Die der Schwerkraft trotzenden Bergbahnen sind der
berühmteste Teil der SBB , aber auf sie entfallen
nur 150
des 5000
Kilometer langen Schienennetzes. Eisenbahnen sind die Zugpferde der Schweizer
Wirtschaft, denn sie transportieren nicht nur Urlauber und Pendler, sondern
auch Güter. Beeindruckende 63
Prozent des transalpinen Schwerlastverkehrs werden auf der Schiene durch die
Schweiz befördert, doppelt so viel wie in Ãsterreich. Die Verladung der
Schwerlastfahrzeuge auf Züge bedeutet weniger Luftverschmutzung, weniger
Verkehr, weniger Lärm, also haben alle etwas davon. Aber das wahre Wunder des
Schweizer Schienennetzes sind weder die Frachtstrecken quer durch die Alpen
noch die groÃen Namen wie der Glacier Express oder die gut ausgelasteten
Intercity-Verbindungen. Das wahre Wunder sind die Regionalbahnen.
Jahrzehnte nach Dr. Beeching, der vielen
Regionalverbindungen in GroÃbritannien den Garaus machte, gelten diese in der
Schweiz nach wie vor als wesentlicher Teil der nationalen Infrastruktur, auch
wenn sie nicht so gut ausgelastet sind. Die vollen Züge der Hauptverbindungen
bringen das Geld für die Subventionierung der Nebenstrecken, sodass das
Gesamtnetz überlebt. Für jemanden, der in einer Welt der Privatisierung um des
Profits willen aufgewachsen ist, klingt das sehr weitsichtig, antidarwinistisch
und antikapitalistisch. Für die Schweizer ist es aber einfach ein Service für
die Einheimischen und verstreute Touristen, der garantiert, dass keine Gemeinde
vom Transportnetz abgeschnitten ist. Um dieses Ziel zu erreichen, werden auch
Busse eingesetzt, die den Eisenbahnverkehr aber nur ergänzen, nicht ersetzen
sollen. Ein spinnennetzartiges Gebilde aus 798 Routen mit über 2100
Postbussen, alle leuchtend gelb, befördert 121 Millionen Passagiere
pro Jahr zu Orten, die per Bahn nicht zu erreichen sind. Da wir uns in der
Schweiz befinden, sind die Fahrpläne aufeinander abgestimmt, sodass die
Reisenden zügig von der Bahn in den Bus und umgekehrt umsteigen können.
Bei den Schweizern sieht das so einfach aus, als wäre
es die natürliche Ordnung der Dinge. Als wäre es die einzige Möglichkeit, wie
öffentliche Verkehrsmittel betrieben werden können.
Solche Koordination ist nur möglich, weil das System
einer einheitlichen Planung unterliegt. Jeden Dezember, meist am zweiten
Sonntag des Monats, tritt der neue landesweite Fahrplan in Kraft und
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