Der Schweizversteher
es einen Preis für den schlimmsten Schandfleck der
Schweiz gäbe, würde dieser 18-stöckige
Betonklotz meine Stimme bekommen. Zwar ist das Ungetüm nicht schlimmer als
manche Bauten in den Vororten von Zürich und Bern, doch es verschandelt einen
Ort mit sonst mäÃig hohen Häusern und einer traumhaften Bergkulisse. Am besten
steigen Sie dort ab, dann bleibt Ihnen wenigstens sein Anblick erspart, wenn
Sie morgens die Fenster öffnen.
Es gibt zwei Gründe, warum Schweizer nach Interlaken
kommen. Erstens steigen sie hier um. Der Ort ist ein Eisenbahnknotenpunkt wie
Hannover, nur wesentlich idyllischer und mit weniger Bahnsteigen. Hier enden
von Bern, Zürich oder sogar Frankfurt kommende Hauptstrecken; weiter können
diese Züge nicht fahren, weil ab hier die Spur schmaler wird und kleinere
Bahnen verkehren. Im Halbstundentakt fährt ein Zug mit 14 Waggons ein und spuckt
Hunderte Passagiere aus, die dann zum Interlaken-Spurt ansetzen. Bei
Fahrplänen, die auf die Sekunde ausgeklügelt sind, bleiben ungefähr fünf
Minuten für den Bahnsteigwechsel durch die Unterführung und das Besteigen der
richtigen Schmalspurbahn. An einem Sonntagmorgen im Hochsommer kann es ziemlich
chaotisch zugehen, wenn all die Schweizer Wanderer mit den Touristen um
Sitzplätze konkurrieren. Die Touristen ziehen meist den Kürzeren.
Der zweite Grund ist eines der besten Cafés der
Schweiz. In einem Land, wo man sich gern zu Kaffee und Kuchen trifft, gibt es
dafür kaum einen besseren Ort als das Café Schuh. Seit 1818 entzückt es seine
Gäste mit Gebäck und Torten, und die Qualität hat seither offenbar nicht
nachgelassen. Stimmt, das Dekor war modern, als die Berliner Mauer noch stand,
und der Klavierspieler rutscht gelegentlich ins Schmalzige ab, aber das
Backwerk ist göttlich. Die Sonnenterrasse geht auf Interlakens riesigen
Dorfanger hinaus, die Höhematte, ein beliebter Landeplatz für Paraglider. Wenn
Sie in der Bergbahn jemanden mit Rucksack in GröÃe eines Mini treffen, dann ist
es ein Gleitschirmflieger, der seinen Fallschirm bergauf befördert, damit er
dort über die Klippe springen und talwärts schweben kann. Sie beim Sprung ins
Ungewisse zu beobachten ist fast so aufregend, wie ihnen bei der Landung vor
dem Café Schuh zuzusehen.
Wer sich ein wenig zu viel Mousse-au-Chocolat-Kuchen
gegönnt hat, kann das durch Gipfeljoggen abarbeiten. Spaà beiseite, manche
Leute machen das wirklich, wenn auch nicht unbedingt direkt nach einem
Cafébesuch. Tausende haben schon am Jungfrau-Marathon teilgenommen, der die
üblichen 42,195
Kilometer misst, wobei aber mehr als 1800 Höhenmeter zu
überwinden sind. Eine ziemliche Herausforderung, der sich aber alljährlich über
5000
Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellen. Beeindruckend, doch ich fahre lieber
mit der Bahn bergauf.
Auf dem Dach Europas
Die erste Strecke bringt mich vom Bödeli, der
Schwemmebene rund um Interlaken, in ein tief eingeschnittenes Trogtal, das sich
mitten durch das Herz der Berge zieht. Dieses von Gletschern geformte Tal
gleicht einer Seite aus dem Lehrbuch der Geologie: Steilhänge, die 1000
Meter hoch emporragen, ein breiter flacher Talgrund, brautschleierartige
Wasserfälle, ein Fluss, viel zu klein, um diese grandiose Kulisse geschaffen zu
haben. Das Lauterbrunnental ist einer der atemberaubendsten Orte der Schweiz,
aber leben möchte ich dort nicht. Zu oft ist es in Schatten und Nebel gehüllt,
vor allem im Winter, wenn die Sonne kaum den Talboden erreicht. Da ist es an
den sonnigen Plätzen oberhalb der Steilwände doch schöner, und dorthin bringt
mich der nächste Zug.
Die Züge der Berner Oberland Bahn und der
Wengernalpbahn (kurz BOB und WAB )
halten am selben Bahnsteig, weshalb das Umsteigen hier sehr viel bequemer ist
als in Interlaken. Was man von den Sitzen allerdings nicht behaupten kann. Aber
angesichts der groÃartigen Landschaft vergisst man bald den tauben Po und die
Krämpfe in den Waden. Erstaunlich, wie schnell wir den Talboden hinter uns
lassen und die Bauernhäuser und Autos wie Spielzeug wirken. Kurz bevor wir das
(autofreie) Wengen erreichen, bietet sich der beste Blick auf das ganz Tal, das
auf beiden Seiten von mächtigen Bergen begrenzt wird. Wenige Meter bevor wir
den Wald hinter uns lassen und dieses Panorama auftaucht, erblicken wir neben
den Gleisen ein kleines Schild mit dem Bild einer Kamera. Damit wir es
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