Der Schweizversteher
Schweizer
Werten zählen Intimsphäre und Bescheidenheit. Halte dich unauffällig im
Hintergrund, auch wenn du steinreich bist, und beides bleibt dir erhalten. Die
groÃe Ausnahme ist Roger Federer, der einzige Schweizer Weltstar, doch selbst
er strahlt eine gewisse Bodenhaftung aus. Welcher andere Star setzt seine
Babybilder auf Facebook, statt sie an die Boulevardpresse zu verkaufen? Es ist
die Schweiz, die berühmt ist, nicht die Schweizer. Doch wen würden die
Schweizer wählen, wenn sie müssten? Wer sind ihre Idole?
2010 hat die Zeitung Der Bund die zehn bedeutendsten Schweizer aller Zeiten
aufgelistet, und diese Auswahl sagt alles. Weder ein Monarch noch ein Präsident
findet sich unter den Top Ten, schon weil die Schweizer eigentlich keine
hatten. Auch ist keiner von ihnen nach 1906 geboren, als sei es
heute viel zu früh, solche Jungspunde abschlieÃend zu beurteilen. Stattdessen
findet man auf der Schweizer Liste
Â
â zwei militärische Oberbefehlshaber, wie es sich für eine militaristische Nation
geziemt, die sich zwanghaft mit Selbstverteidigung beschäftigt: Henri Guisan
(im Zweiten Weltkrieg) und Jürg Jenatsch (im DreiÃigjährigen Krieg);
â zwei im Ausland Geborene, was die 20 Prozent der Bevölkerung widerspiegelt, die
nicht Schweizer Bürger sind: Albert Einstein und Jean Calvin;
â zwei Männer des Wortes, immerhin ist die Schweiz eine groÃe Quasselstube:
Jean-Jacques Rousseau und Henri Dunant, der seinen Worten immerhin Taten folgen
lieÃ;
â zwei Pioniere, was gut zu einer Nation von Erfindern passt: Albert Hoffman (der LSD -Mann, siehe Kapitel 7) und Alfred Escher, der
die Crédit Suisse gegründet und das schweizerische Eisenbahnsystem mit ersonnen
und aufgebaut hat.
Und wer sind die beiden Ãbrigen? Das ist nun wirklich
faszinierend: Es handelt sich weder um Wilhelm Tell noch um General Dufour,
auch nicht um bedeutende Schweizer wie Le Corbusier, Carl Gustav Jung oder Max
Frisch. Nein, die beiden Letzten auf der Liste sind Frauen. Und zwar fiktive.
Ich bin mir nicht sicher, was es über die Rolle der Frau in der Schweizer
Geschichte aussagt, dass die beiden bekanntesten Vertreterinnen ihres
Geschlechts nie gelebt haben; jedenfalls beschlieÃen Heidi und Helvetia die
Runde. Zwei sehr unterschiedliche Idealbilder Schweizer Weiblichkeit: die eine
süà und unschuldig, die andere eine wohlgerüstete Athene. Die echte Schweizerin
findet sich wohl irgendwo dazwischen. Oder sie fängt in der Kindheit als Heidi
an und wird dann irgendwann zur Helvetia.
In gewisser Weise ist ein unschuldiges kleines Mädchen
eine sehr passende Wahl in einem Land, das keine Galionsfiguren schätzt. Aber
kann eine fiktive Figur tatsächlich ein Land repräsentieren? Für viele
Schweizer und noch mehr Ausländer verkörpert das Heidi die Schweiz, ist sie der
Inbegriff der nationalen Identität. Also muss ich sie kennenlernen, wenn auch
vielleicht dort, wo ich es am wenigsten erwartet hätte.
Ronald und Heidi
Bei McDonaldâs ist Heidi-Woche. Und zum ersten Mal,
seit ich vor zehn Jahren aufgehört habe, tote Kühe zu essen, zieht mich das
goldene M magisch an. Nichts einfacher als dieser Tabubruch, denn wie in den
meisten europäischen Städten ist es auch in Bern nirgends weit zu
Hamburger-Ronald: Allein drei seiner Burgerläden liegen in fettspritzender
Reichweite voneinander.
Ich versuche mir auszumalen, was mich erwartet. In
einer japanischen Woche gibt es Teriyaki-Burger, in einer mexikanischen wird
ein bisschen Salsa auf die Brötchenhälften geschmiert. Aber in einer
Heidi-Woche? Wie kann man einen Burger dazu passend verhunzen? Wird er mit
einer karierten Serviette aufgepeppt? Oder jodelt die Burgerschachtel beim
Ãffnen wie diese kleinen runden Spielzeuge, die muhen, wenn man sie umdreht?
Das Problem ist, dass meine Erwartungen hinsichtlich
der Heidi-Woche reichlich vage sind, weil ich kaum etwas über das Mädchen weiÃ.
Zwar begegnet einem die unangefochtene Miss Schweiz auf Schritt und Tritt, aber
ich kann mich einfach nicht an ihre Geschichte erinnern. Da hüpft, untermalt
von schmalziger Musik, aus dem Nebel des Vergessens zwischen Flipper und Black Beauty grobkörnig
ein kleines Mädchen.
Es ist ein verregneter Sonntag, ich bin wieder zehn
Jahre alt und liege, den Kopf auf die Hände gestützt, neben meiner Schwester im
Wohnzimmer vor dem Fernseher. Vor mir das
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