Der Schweizversteher
wenn sie die weniger ersprieÃlichen und
unerfreulicheren Episoden gern aussparen. Aber welches Land tut das nicht?
Man könnte einwenden, das hätte mit der wirklichen
Welt, deren Vergangenheit unromantisch und deren Gegenwart einfach grausam ist,
nichts zu tun. Die Wahrheit ist, dass die Schweizer schon seit geraumer Zeit
nicht mehr in der wirklichen Welt leben, dass sie an der jüngsten Geschichte,
die ihr Land geformt hat, nicht teilgenommen haben. Neutral zu sein ist nicht
immer leicht, aber es ist oft sehr viel einfacher, als Partei zu ergreifen.
Vielleicht haben sich die Eidgenossen schon so lange
herausgehalten, dass sie vergessen haben, wie es ist, wenn man Entscheidungen
treffen und dann mit den Folgen leben (oder sterben) muss. Ihre Geschichte mag
sie hinsichtlich ihrer Stellung in der Welt selbstgefällig, ja sogar arrogant
gemacht haben, aber sie hat der Welt auch vorbildhaft gezeigt, wie ein Land
durch Konsens reüssieren kann, obwohl es dieselben Verwerfungslinien hat wie
jedes andere auch. Wenn es in der Vergangenheit mehr Eidgenossenschaften
gegeben hätte, wäre die Welt heute wahrscheinlich ein besserer Ort.
â
Survival-Tipp
Nummer 2
Die Rotschuhbrigade
Wenn Sie wie die Einheimischen
aussehen wollen, ziehen Sie rote Schuhe an. Das mag absurd klingen, aber ich
habe nirgends so viele rote Schuhe gesehen wie in der Schweiz. Männer, Frauen,
Alte, Junge, ob in Schale geworfen oder in Räuberzivil, ob in der Stadt oder
auf dem Land â jeder scheint ein Paar zu besitzen. Man kann kaum länger als
zwei Minuten eine StraÃe entlanggehen, ohne Rot zu sehen. Offenbar sind die
roten Schuhe eine Art Nationalfetisch, aber von den vielen Schweizern, die ich
schon darauf angesprochen habe, ist es keinem aufgefallen. Mir schon.
Zum ersten Mal auf einer schattigen
Bank auf dem länglichen Platz im Herzen von Bern, der ungefähr die Lage der
alten Stadtmauer nachzeichnet. Nach wenigen Minuten dämmerte mir, dass jeder
zehnte Passant rotes Schuhwerk trug. Stiefel, Sandalen, Turnschuhe, Pumps.
Velours, Leinen, Plastik, Lackleder. In allen erdenklichen Formen, GröÃen und
Scharlachtönen. Seither ist Rote-Schuhe-Gucken mein Lieblingszeitvertreib beim
Einkaufsbummel, Wandern oder Sightseeing. Egal welchen Teil der Schweiz man
sommers oder winters besucht, es dauert nie lange, bis man welche entdeckt. Als
ich einmal am Berner Bahnhof auf einen Zug wartete, zählte ich in zehn Minuten 28 Paar,
bisher mein Rekord. Anscheinend fand hier eine Rotschuhtagung statt, von der
mir niemand erzählt hatte. Sie könnten jetzt natürlich einwenden, dass jemand,
der rote Schuhe zählt, nicht ganz richtig im Kopf ist, aber ich bin überzeugt,
dass ich hier auf ein interessantes kulturelles Phänomen gestoÃen bin. Zu Hause
in GroÃbritannien habe ich dasselbe Experiment gemacht. Trist. Ein geschäftiger
Tag in Edinburgh und nur acht Paar. Ein Shoppingvormittag in den Gunwharf Quays
in Portsmouth und jämmerliche drei Paar. (Da sehe ich mehr, wenn ich in Bern Milch
holen gehe.) Zehn Minuten auf einer Bank in der Oxford Street und kein einziges
Paar.
Was hat es also mit all den roten
Schuhen in der Schweiz auf sich? Ich habe diverse Theorien, die mehr oder
weniger einleuchtend sind:
1. Theorie:
Die Schweizer sind sehr patriotisch. Die Nationalfarben sind Rot und WeiÃ, und
weil Letzteres für Schuhe eher unpraktisch ist, bleibt nur Rot. Der
Patriotismus der Schweiz ist nicht zu leugnen. Abgesehen von den Vereinigten
Staaten, habe ich nirgends so viele wie selbstverständlich gehisste
Nationalflaggen gesehen. Sie hängen an Balkonen, flattern an Autoantennen,
wachen über Schrebergärten und zieren Baustellen. An Fest- und Feiertagen haben
Busse und Trambahnen vorne kleine Fähnchen aufgesteckt, und am Bundesfeiertag,
dem 1. August,
weht ein Meer aus rot-weiÃen Schweizer Fahnen. Grund genug, Rot zu tragen?
Nicht unbedingt.
2. Theorie:
Die Schweizer mögen Dorothy aus dem
Zauberer
von Oz
. Es klingt nach Verrat, beinahe Blasphemie, das im Land
von Heidi laut auszusprechen, aber vielleicht wollen sie unbewusst rubinrote
Ballerinas tragen, auch die Männer. Problematisch bei dieser Theorie ist nur,
dass der
Zauberer von Oz
in der Schweiz, vor allem weil er nicht alljährlich zu
Weihnachten ausgestrahlt wird, keinen Kultstatus besitzt. Ich kenne Leute, die
den Film noch nie gesehen haben!
3. Theorie:
Die Schweizer wissen nicht, wie man
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