Der Schweizversteher
Feiertage haben. Manche katholischen Kantone wie Fribourg
feiern Karfreitag zusammen mit ihren protestantischen Nachbarn, für andere wie
das Wallis ist das hingegen undenkbar â damit würde man ja die Kreuzigung
Christi feiern! Und dieses eine Mal wird auch im Tessin in die Hände gespuckt
und gearbeitet.
Einen ähnlichen Kompromiss gibt es am Berchtoldstag,
der gröÃtenteils ein Feiertag der Protestanten ist, nicht weil sie so besonders
viel von ihm hielten, sondern weil er auf den 2. Januar fällt. Diese
gerissenen Protestanten mögen vielleicht mehr arbeiten, hier aber ist es ihnen
gelungen, einen Kurzurlaub herauszuschlagen, indem sie einen zusätzlichen
Feiertag an einen bereits verbrieften angehängt haben. Clever, nicht wahr? Doch
der Ferienkalender ist nicht die einzige Reminiszenz an die religiöse Spaltung
von ehedem.
Glocken, Hähne, Kreuze
Die meisten Touristen bemerken kaum den Unterschied
zwischen einem katholischen und einem protestantischen Kanton. SchlieÃlich
essen in dem einen nicht alle am Freitag Fisch, und im anderen ist nicht jeder
ein Workaholic. Nur wenn in einer katholischen Stadt wie Luzern an einem
Extrafeiertag alles geschlossen hat, fällt dem Besucher vielleicht auf, dass hier
irgendetwas ungewöhnlich ist.
Doch auch bei einem Kurzbesuch kann man in beinahe
jeder Schweizer Stadt und in fast jedem Dorf rasch erkennen, ob die Kirche
katholisch oder protestantisch ist. Ein kurzer Blick hoch zur Turmspitze
genügt: Ein Hahn ziert den protestantischen Turm, den katholischen ein Kreuz.
Das ist schon alles. Fast 500
Jahre Religionsstreit lassen sich auf die Entscheidung zwischen Hahn oder Kreuz
reduzieren, was natürlich besser ist als Kugeln und Bomben. Obwohl das Innere,
sobald man eine Kirche betritt, sowieso alles verrät. Grob gesagt zählen die
Schweizer Protestanten zu den Verfechtern des »Weniger ist mehr«, die
Innenausstattung ihrer Gotteshäuser ist so karg, dass dagegen sogar die
anglikanischen überladen wirken. Nur wenige warten mit solchen Kinkerlitzchen
wie Gemälden, Chorgestühl, Lesepult oder gar einem Altar auf. Hier geht es nur
ums Predigen, Singen und Beten, da will man sich nicht von Stuckputten,
Deckenmalerei, Glocken oder Weihrauch ablenken lassen. Dafür muss man in eine katholische
Kirche gehen, am besten in eine richtig groÃe.
Mitten im Kanton Schwyz gibt es einen riesigen Platz
vor einem noch gröÃeren Kloster. Das ist Einsiedeln, katholischer geht es
nicht. Eine Schar von Nonnen und ein Priester in schwarzer Soutane eilen über
das Kopfsteinpflaster, den Mittelpunkt eines reich verzierten Brunnens bildet
eine vergoldete Madonna, in Souvenirgeschäften türmen sich Rosenkränze,
Kruzifixe und Jesus-und-Maria-Nippes. Das ist definitiv kein protestantisches
Terrain. Ja, ich beginne mich zu fragen, ob Einsiedeln überhaupt noch zur
Schweiz gehört, hier sieht es eher wie in Spanien oder Italien aus. Das Portal
zwischen den beiden Kirchtürmen ist wahrlich imposant, doch sobald man das
Innere betreten hat, ist das ÃuÃere sofort vergessen: Willkommen in einer Welt,
geschaffen von einem Hochzeitstortenbäcker im Drogenrausch. Es ist
atemberaubend, allerdings nicht unbedingt im positiven Sinne.
Rosafarbene Stuckblumen überwuchern die weiÃen Wände
und ranken sich um Säulen und Gemälde. Dazu eine Kanzel, die eines Papstes
würdig wäre, güldene Kapitelle und Engel in allen Ecken und Winkeln â es ist
der Albtraum eines jeden Protestanten. Wahrscheinlich werde auch ich heute
Nacht schlecht schlafen. Doch einmal abgesehen von dem barocken Interieur, bei
dem einem die Augen übergehen: Hier handelt es sich um ein funktionierendes
Benediktinerkloster mit etwa hundert Mönchen und täglich sechs Gottesdiensten.
Am eindrucksvollsten ist die Vesper jeden Nachmittag um 16.30 Uhr, wenn die Mönche das
Salve Regina singen, und zwar ganz hervorragend. Man bekäme eine Gänsehaut,
fiele einem dabei nicht unweigerlich ein, wie Whoopi Goldberg und ihre Nonnen
im Film Sister Act zu diesen Zeilen swingen. Hier
steht allerdings eine andere schwarze Frau im Mittelpunkt und zieht das ganze
Jahr über scharenweise Pilger an: eine Madonna mit Jesuskind im Arm, beide in
prächtigen Gewändern, die Gesichter geschwärzt von jahrzehntelangem Kerzen- und
Lampenqualm.
Trotz dieses überbordenden Katholizismus ist
Einsiedeln nur eine Stunde von Zürich,
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