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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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und Kompromiss die Schweizer Haltung. Von Regierung und Politik
über Wirtschaft und Finanzen bis hin zu Gemeinden und Vereinen ist der Konsens
die anerkannte Lösung. Sorgfältig erwogene Beschlüsse entsprechen der Schweizer
Wesensart viel mehr als rasches Handeln. Kaum eine Entscheidung wird getroffen,
ohne zuvor alle Argumente, Möglichkeiten, Auswirkungen und Standpunkte zu
betrachten, sodass das Ergebnis für jeden, zumindest aber für die Mehrheit,
akzeptabel ist. Dieser umfassende Ansatz ist fair und lobenswert, sorgte aber
bereits im 19.  Jahrhundert
für ein ermüdend langwieriges und schwerfälliges Prozedere.
    Für die Außenwelt hatte diese neue Politik damals kaum
eine Bedeutung, denn man befand sich auf dem Höhepunkt des europäischen
Imperialismus. Alle anderen waren vollauf damit beschäftigt, sich Imperien zu
schaffen, wettzurüsten, Ureinwohner zu bekehren und Kolonien auszuplündern, und
sie nahmen kaum Notiz von einer Nation, die auf dem Konsensprinzip gründete.
Allerdings sollte sich das durch die Ereignisse eines Jahres ändern, die den
Blick der Welt auf die Schweiz lenkten.

Mr. Cook und das Kreuz
    Weltgeschichtlich betrachtet war 1863 ein bedeutsames Jahr.
Mit 1492 oder 1945 kann es sich zwar nicht messen, es war aber zweifellos interessanter als beispielsweise
1329 oder 1754. Erstens gaben die Rollschuhe, der Feuerlöscher, der englische Fußballverband
und die erste U -Bahn (in London) ihr Debüt. Ebenso
der Name Mark Twain (als Pseudonym des damals 28-jährigen Samuel
Clemens). Außerdem erhielt der südfranzösische Ort Vergèze die kaiserliche
Erlaubnis zum Hotel- und Kurbetrieb rund um eine gewisse Mineralquelle, die
später unter dem Namen »Perrier« bekannt wurde. So weit die guten Nachrichten.
    In den Vereinigten Staaten sah es eher schlecht aus,
denn der Bürgerkrieg erreichte bei Gettysburg seinen apokalyptischen Höhepunkt.
Obwohl Präsident Lincoln alle Hände voll zu tun hatte, fand er Zeit für drei
historische Verlautbarungen: die Emanzipationsproklamation, die Gettysburg-Rede
und die Festlegung des Erntedankfestes auf den letzten Donnerstag im November.
Aller drei Ereignisse gedenken die Amerikaner bis heute.
    Für die Schweizer war 1863 ebenfalls ein
bedeutsames Jahr, auch wenn sie es damals – und vielleicht bis heute – nicht
bemerkten. Denn in diesem Jahr wurde nicht nur in Genf das Rote Kreuz
gegründet, sondern ein gewisser Mr. Thomas Cook führte in der Schweiz auch die
erste Pauschalreise durch. So entstand das moderne Image des Landes: als
Verfechterin der Neutralität und des Fair Play und außerdem als schöne
friedliche Urlaubsregion. Die Schweizer haben seither gute Geschäfte damit
gemacht. Damals konnte man als Tourist die Landschaft bewundern, eine Schweizer
Taschenuhr kaufen und Trost aus dem Gedanken schöpfen, dass sich die Schweiz
bei Ausbruch eines Krieges raushalten würde. Was man nicht konnte, war
Milchschokolade essen oder eine Bergbahn besteigen, denn diese Schweizer
Erfindungen wurden erst im folgenden Jahrzehnt gemacht. Diese ziemlich modernen
Freuden heizten den Schweizer Tourismus (und einen Wirtschaftsboom) dann weiter
an, bis die Welt im Jahr 1914
kollabierte.

Das Ende der Zeit
    Der Weg der Schweiz mag zwar über 35 Kilometer den
Mikrokosmos des Landes und seiner Geschichte vergegenwärtigen, doch das 20.
Jahrhundert kommt kaum vor, weil sich die Eidgenossen hier aus allem
heraushielten. Für die Schweizer Männer bedeutete das, im alten Trott
weiterzumachen, die Schweizerinnen hingegen gerieten ins Abseits. Dass die
Buebe nicht in den Krieg zogen, hieß, dass es für die Meitli daheim keine Arbeitsplätze
gab, also auch keinen Anstoß für Reformen. Der Wirbelwind der Veränderung, der
durch Europa fegte, ließ die Schweiz, quasi im Auge des Zyklon, unberührt –
sollten sich die Stürme doch anderswo austoben. Nur einmal, im Jahr 1940,
war die Position der von den Achsenmächten umringten Schweiz bedroht, obwohl
Nazideutschland nicht gerade darauf erpicht war, in den Bergen gegen eine Armee
aus Scharfschützen und Guerillakämpfern anzutreten – das ist jedenfalls die
typisch schweizerische Version der Geschichte. Das Überleben der Schweiz ist
beinahe so mythenumrankt wie das Großbritanniens im selben Konflikt, wobei
beide Länder den Krieg durch die rosa Heldenbrille betrachten. Die

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