Der Schweizversteher
Schweizer, er hätte wirklich gelebt.
Von Hitler wurde das Stück verboten, obwohl Schiller
einer der groÃen Deutschen des 18. Jahrhunderts war (der ja unter anderem die
Ode »An die Freude« verfasste, welche Beethoven für seine Neunte vertonte).
Hitler gefiel das Thema des Tyrannenmords nicht. Womöglich hatte er auch etwas
gegen die Besetzung des Bösewichts â schlieÃlich war er Ãsterreicher.
Ein Neuanfang
Der Weg am Südufer des Urner Sees ist eher für
Spaziergänger als für Wanderer gedacht, nicht zuletzt weil ein GroÃteil
asphaltiert ist. Aber mir scheint er ebenso interessant wie jeder felsige
Gebirgspfad, denn er ist der noch verbliebene Teil der Axenstrasse, die 1865 in
den Fels gesprengt wurde. In den engen, verlassenen Tunneln und
Steinschlaggalerien wird es einem leicht unheimlich â wie in einem dieser
Filme, wo der Held allein in einer menschenleeren Welt aufwacht. Die moderne
StraÃe ist halb in den Hang eingegraben, aber leider nicht ganz, sodass ich ihr
streckenweise folgen muss.
Da freut man sich, wieder einen Waldweg einzuschlagen
â vielleicht haben die Wanderer ja nicht ganz unrecht â, denn der nächste
Abschnitt führt zur Tellskapelle an der Tellsplatte, wo unser Held angeblich
von Gesslers Boot aus an Land gesprungen ist. Am Fuà einer langen Treppe zum
Ufer hinunter bietet sich ein bemerkenswertes Bild: das gröÃte Glockenspiel der
Schweiz mit insgesamt 37
Glocken. In den ersten zehn Minuten jeder Stunde spielt es ein Potpourri aus zwanzig
Melodien, darunter natürlich die Wilhelm-Tell-Ouvertüre und, ein wenig
befremdlich, »Auld Lang Syne«. Der Glockenturm aus Metall wurde von der
Schweizer Schokoladenindustrie gestiftet, obwohl der Bezug sich ebenso wenig
erschlieÃt wie der Grund, warum er hier drauÃen mitten in der Walachei steht.
Aber auf dem Weg hinunter zur Kapelle und zur Bootsanlegestelle summe ich
Rossini.
So erreiche ich ohne gröÃere Anstrengung das Ende des
Weges und überspringe wiederum einen längeren Zeitabschnitt. Der Wiener
Kongress im Jahr 1815
legte die Grenzen der Schweiz fest und garantierte ihr die Neutralität, ohne
dass sich auf der Schweizer Landkarte gröÃere Ãnderungen ergaben. Der Bestand
an Kantonen blieb unverändert, was bedeutet, dass der Weg der Schweiz das restliche
19.
Jahrhundert und den GroÃteil des 20. nicht ordentlich repräsentiert. Aber auch
ohne Gebietsgewinne oder -verluste veränderte sich das Land durchaus, und zwar
vornehmlich 1848,
als es komplett generalüberholt wurde. In jenem Jahr wurde ganz Europa von
Revolutionen erschüttert, so erstaunt es nicht, dass es auch bei den
Eidgenossen brodelte. Der entscheidende Unterschied ist, dass die politische
Revolution in der Schweiz ganz ohne Schlachten und BlutvergieÃen auskam. Das
hatte es bereits im Vorjahr gegeben, als die Schweiz ihren letzten bewaffneten
Konflikt austrug, einen Minikrieg, der keinen Monat dauerte. Dies war auch die
letzte Runde der Religionsstreitigkeiten, die das Land seit der Reformation
spalteten, aber die Versöhnung zwischen Katholiken und Protestanten erfolgte
erstaunlich rasch und hat seither Bestand. Und das hängt mit der besagten
Generalüberholung des Landes zusammen.
Es war das Ende des Staatenbunds und der Anfang des
Bundesstaats. Die damals erlassene Bundesverfassung der Schweizerischen
Eidgenossenschaft sah eine Zentralregierung und ein Parlament in der neuen
Hauptstadt Bern vor. Die Machtbefugnisse der Kantone wurden beschnitten, aber
sie blieben so weit selbstständig, dass sie ein Gegengewicht zum Bundesrat
bildeten und die Katholiken zufrieden waren. Fortan war die Schweiz ein
Bundesstaat, und ihre neue Regierung brachte Ordnung ins Chaos und gab den
Bürgern, was sie seither wollen: anständige Vorschriften und Verordnungen.
Durch die Abschaffung interner Zölle entstand ein gemeinsamer Markt, man
einigte sich auf eine gemeinsame Währung, und die Schweizer durften ihren
Wohnsitz frei in einem beliebigen Kanton wählen. Insgesamt ein ähnlicher
Prozess, wie er im 20.  Jahrhundert
in der Europäischen Union stattfand, was beweist, dass die Schweizer uns in
allem voraus waren.
Die neue Verfassung war eine pragmatische, friedliche
Lösung für ein hartnäckiges Problem und wurde zum Vorbild für Konfliktlösung
nach Schweizer Art. Seither bestimmen praktisch in jeder Lebenssphäre
Verständigung
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