Der Schweizversteher
Schweizer
Einstellung zu Krieg und Frieden â und besonders zum Zweiten Weltkrieg â werde
ich in einem anderen Kapitel noch näher beleuchten.
Als der Wandel endlich kam, ging er von innen aus. In
fast jedem europäischen Land gibt es die ewig Unzufriedenen: Deutschland hatte
die Baader-Meinhof-Gruppe, Italien die Roten Brigaden, GroÃbritannien die IRA und die Schweiz Les Béliers. Diese Separatisten
wollten aus Jura, damals Teil des Kantons Bern, einen eigenständigen Kanton
machen, aber da wir uns in der Schweiz befinden, wurden weder Autobomben
gezündet noch Attentate verübt. Die Schlacht wurde an der Wahlurne und nicht
mit dem Gewehr im Anschlag ausgetragen, obwohl es gelegentlich zu Krawallen kam
und sogar Molotowcocktails geworfen wurden. Es dauerte eine ganze Weile und
brauchte mehrere Volksabstimmungen, aber 1979 wurde Jura der jüngste
Kanton. Mit seinen 70Â 000 Einwohnern ist er nun der letzte Abschnitt auf dem Weg der Schweiz, ehe dieser
in Brunnen an der Grenze zwischen dem Vierwaldstätter See und dem Urner See
endet. Der Dampfer legt an, und der Bus für die zehnminütige Fahrt nach Schwyz,
meiner letzten Station, steht schon bereit.
Schwyz, als Namensgeberin nicht nur des Kantons,
sondern des ganzen Landes, ist ein unaufdringlicher Ort. Das auffälligste
Gebäude ist das Rathaus, dessen Fassadenmalerei Szenen der frühen Schweizer Geschichte
und den Sieg bei Morgarten zeigt. Ein weiteres Stück Geschichte ist ganz in der
Nähe untergebracht: Die Schweizer Geburtsurkunde hat hier ihre letzte
Ruhestätte gefunden. Der Bundesbrief von 1291 ist in einem groÃen,
fahnengeschmückten Saal ausgestellt und wirkt vielleicht deshalb so klein â ein
Taschentuch im Vergleich zum Strandtuch der Amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung. Das vergilbte Pergament ist mit feinsäuberlichen
gotischen Buchstaben eng beschrieben, sodass es an ein Dokument aus einem
Tolkien-Roman erinnert. Zwei Wachssiegel hängen wie klobige Klunker daran;
leider fehlt das dritte, ausgerechnet das von Schwyz. Die Urkunde wirkt viel zu
klein und zerbrechlich, um auch nur die Bootsfahrt vom Rütli zu überstehen,
geschweige denn ein Land zu begründen.
Damit schlieÃt sich der Kreis auf dieser Reise durch
die Geschichte â von einer Wiese, auf der ein Eid geleistet wurde, zum
Bundesbrief, der aus dem Eid hervorgegangen ist.
Die Vergangenheit ist kein Land, sie ist das, was
jedes Land zu dem macht, was es heute ist. Auch der flüchtigste Blick zurück
hilft uns, die Gegenwart zu begreifen. Ãber 700 Jahre nach dem Treffen
der drei Männer auf der Wiese oberhalb des Sees sind die Folgen des Pakts nicht
zu übersehen. Natürlich gab es im Lauf der Zeit Veränderungen, mal zum Guten,
mal zum Schlechten, aber der ursprüngliche Bund dreier freier Gemeinden steht
im Zentrum der modernen Schweiz. Konflikten und Kompromissen ist es zu
verdanken, dass das heutige Bündnis perfekter ist als das von 1291,
und es hat sich gezeigt, dass Erfolg nicht von GröÃe und Macht abhängt. Allen
Widrigkeiten zum Trotz hat dieses kleine Land in der Mitte Europas überlebt,
während gröÃere Reiche und andere Republiken gefallen sind.
Nicht schlecht für eine Ansammlung von Bergbauern und
Kuhhirten. Hilfreich war, dass sie wichtige europäische Handelswege
kontrollierten â die Bergpässe, auf die es andere Länder abgesehen hatten und,
wichtiger noch, ihren Konkurrenten nicht gönnten. Die GroÃmächte waren es
zufrieden, dass die Schweizer die Zügel in der Hand behielten, zum Vorteil
aller Beteiligten. Und ein gemeinsamer Feind, seien es die Habsburger,
Napoleon, die Nazis oder Brüssel, hat die Schweizer immer wieder in der
Einsicht bestärkt, dass es besser ist zusammenzuhalten. Nichts ist geeigneter,
um interne Unstimmigkeiten zu glätten, als eine äuÃere Bedrohung.
Die Eidgenossen gehen nicht mit ihrer Geschichte
hausieren. Es gibt nur wenige Standbilder ihrer historischen Helden, selten
Denkmäler für vergessene Schlachten und kaum Ehrenmäler für die Toten. Das soll
nicht heiÃen, dass die Geschichte ignoriert würde. Die Aufmerksamkeit richtet
sich vielmehr auf andere Aspekte der Vergangenheit: Traditionen werden
verteidigt, Bräuche gepflegt und Gebäude restauriert, und zwar mit einer
Leidenschaft, die Ausländer den Schweizern gar nicht zutrauen. Sie sind stolz
auf ihre Geschichte, auch
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