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Der Schweizversteher

Der Schweizversteher

Titel: Der Schweizversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diccon Bewes
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Schweizer Städte relativ denkmalfrei. Dazu hat zweifellos
auch beigetragen, dass es hier weder Monarchen noch Kaiser, noch berühmte
Generäle oder Präsidenten gab, die man bis in alle Ewigkeit ehren wollte. Aber
es ist eben auch ein typisches Beispiel für Schweizer Bescheidenheit und
Zurückhaltung.
    In der Ostschweiz nahe Appenzell geboren, verließ
Zwingli schon bald die ländliche heimische Einöde und machte sich auf in die
große, weite Welt. Er studierte in Basel und Wien, vervollkommnete seine
Latein- und Griechischkenntnisse und trat in einen Gedankenaustausch mit dem
großen Humanisten Erasmus von Rotterdam. Sein selbst auferlegtes Einsiedlertum
im Kloster von Einsiedeln endete, als er zum Leutpriester am Zürcher
Grossmünster berufen wurde. Am 1. Januar 1519, seinem 35.
Geburtstag, verstieß er in seiner ersten Predigt gegen alle Regeln, indem er
das Evangelium nach Matthäus klar und verständlich auslegte. Noch gewagter war
seine Teilnahme an einem Wurstessen an einem Fastensonntag, wobei weniger der
Fleischgenuss als vielmehr der Zeitpunkt Anstoß erregte. Heutzutage würde man
sich übrigens schwertun, einen nicht vegetarischen Schweizer aufzutreiben, der
sich gegen den Verzehr von Wurst – eine nationale Obsession! – ausspricht.
Außerdem stellte sich Zwingli gegen den Zölibat, nicht ganz uneigennützig, denn
er hatte heimlich geheiratet, und stritt mit Luther über die genaue Bedeutung
der Eucharistiefeier. »Ist es Brot und Wein oder der Leib und das Blut Christi?
Erläutere Deinen Standpunkt.«
    Zwinglis revolutionäre Ideen überzogen das Land wie
schmelzender Käse, doch da wir uns in der Schweiz befinden, waren einige Löcher
darin. Nur zehn Jahre nach seiner ersten Predigt war die Schweiz gespalten,
vereinfacht gesagt, gab es eine Teilung in protestantische Städte und katholisches
Land. Da beide Seiten immer unversöhnlicher agierten, dauerte es nicht lange,
bis Krieg ausbrach. In der Schlacht bei Kappel (1531) unterlagen die
Zürcher den Katholiken, unter den vielen Toten war auch Zwingli – ein
schlichter Gedenkstein neben ein paar Linden markiert heute die Stelle, wo er
gefallen ist. Und das sollte auch schon sein Ende als Reformator sein. In
dieser Hinsicht wurde er bei Weitem von Calvin übertrumpft, der Genf zu einem
protestantischen Bollwerk ausbaute. Doch die Tatsache, dass Zwingli der Erste
und Schweizer gewesen war (Calvin war Franzose), macht ihn zu einer zentralen
Figur in der Geschichte seines Landes. Wer weiß, was aus der Schweiz und der
dortigen Bevölkerung ohne ihn geworden wäre? Oder wenn er nicht vorzeitig dahingeschieden
wäre?
    Sein Vermächtnis ist klar zu erkennen, wenn man im
gedrungenen Mittelschiff des Grossmünsters auf den harten hölzernen
Kirchenbänken sitzt und die nackten Steinwände und romanischen Bögen
betrachtet, die statt der vergoldeten Kapellen, schwülstigen Gemälde und
Phantastereien katholischer Kathedralen das Kircheninnere bilden. Hier kann man
die schlichte Schönheit der Kirche selbst würdigen, eine Erfahrung, die Ruhe
schenkt. Ein abgedeckter Taufstein dient als Altar, und die einzigen Farbtupfer
sind die drei in lebhaften Farben gehaltenen hohen Buntglasfenster in der
Apsis, eine moderne Ergänzung von Augusto Giacometti aus dem Jahr 1932.
Heutzutage scheren sich die Zürcher Protestanten deutlich weniger als zu
Zwinglis Zeiten darum, ob sie als frivol gelten könnten. Am gegenüberliegenden
Flussufer steht die schlanke Schwesterkirche des Grossmünsters, das Fraumünster
mit sogar noch farbigeren Glasfenstern, in diesem Fall 1970 von Chagall
geschaffen. Ergreifend schön, aber auch ein bisschen dekadent.
    Für die Ironie, dass diese Schweizer Stadt des
Überflusses zugleich die Geburtsstätte der Reformation ist, haben die Zürcher
keinen Sinn. Sie sehen sich selbst gern als gut gekleidete, trendbewusste,
weltgewandte Einwohner einer dynamischen hippen Stadt, die mit New York und
London auf einer Stufe steht. Ich bin nicht sicher, ob Zwingli das gebilligt
hätte. Kein Wunder, dass der Rest des Landes sie in ihren Dolce &
Gabbana-Schuhen für zu großspurig hält. Doch Zürich besteht nicht nur aus
Chichi-Boutiquen und Shoppingexzessen auf der Bahnhofstrasse. Das Flair von
Niederdorf, der Altstadt, ist eindeutig mittelalterlich, es gibt dort keinen
Verkehr, keine Franchisefilialen, keine

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